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Kafkas „Wahrheit“

Unter dem Titel „Wahrheit ist unteilbar“ erscheint am 20. März 2024 im Reclamverlag eine Ausgabe der Aphorismen von Franz Kafka, die meisten von ihnen entstanden zwischen 1916 und 1917 während seines Aufenthaltes in Zürau. Der Titel ist entnommen aus dem Zürauer Aphorismus „Wahrheit ist unteilbar, kann sich also selbst nicht erkennen; wer sie erkennen will, muß Lüge sein.“

Leider wird Franz Kafka immer wieder auf dieser Sockel des „einzig wahren schönen“ gehoben, wo er sich selbst vermutlich nicht gesehen hätte, da er doch lieber unauffällig blieb. Vielleicht hat auch Max Brod hierzu seinen Teil beigetragen, da er immer wieder einen allgemeinen „Drang zur Wahrheit“ von Franz Kafka herausbeschwor und ihn somit auch zu einem Propheten verklärte, so sagte er noch in einem seiner letzten Gespräche mit Georg Stadtler 1968:

„Letzten Endes möchte ich sagen, war er ein strenger Moralist, ein Lehrer, er lehrte nicht durch abstrakte Dogmen, sondern durch sein ganzes ausschließlich auf Aufrichtigkeit und Wahrheit und Natürlichkeit gerichtetes Sein.“

(Max Brod in einem Gespräch 1968)

Auch Alois Prinz hat in seiner durchaus lesenswerten Franz Kafka Biografie „Auf der Schwelle zum Glück“, die am 15.01.2024 in einer unveränderten Neuauflage im insel taschenbuch erschien, diesen verklärten Blick:

„[…] Das gilt auch für Kafkas Leben. Obwohl es an äußeren Ereignissen arm war, hatte es doch eine innere Wahrheit, die man ebenfalls nicht allgemein feststellen kann, sondern die jeder, der dieser Leben betrachtet, für sich anerkennen oder leugnen muss. Diese Wahrheit steht nicht in großen Buchstaben über seinem Leben, sondern versteckt es sich im unspektakulären Alltag des Prager Versicherungsangestellten […]“

(Alois Prinz, „Auf der Schwelle zum Glück„, Berlin 2024)

Franz Kafka ist weder Prophet noch Besitzer einer wie auch immer gestalteten Wahrheit, er ist ein Dichter, dem der geneigte Leser in seinen eigenen Interpretationen und Gedanken wahre Aussagen zueignen mag.


Zur Demenz in Kafkas „Das Urteil“

Vater und Sohn haben sich auseinandergelebt, der Vater misstraut seinem Sohn und nach einem kurzen Streit fällt der Vater ein Todesurteil über seinen Sohn, was dieser reglos hinnimmt und sich in den Fluss stürzt. Dies ist die kurze Zusammenfassung von Franz Kafka „Das Urteil“, einem der am häufigsten untersuchten und interpretierten, weil auch widersprüchlichsten Erzählung von Kafka.

Denn wer ist eigentlich der alte, der hier ein Todesurteil spricht. Der Sohn muss seinen Vater vom Sessel in das Bett tragen, er muss ihn aus- und umziehen und er trägt ihn wie ein kleines Kind.

„Es schien ja fast, wenn man genauer zusah, daß die Pflege, die dort dem Vater bereitet werden sollte, zu spät komme.
Auf seinen Armen trug er den Vater ins Bett. Ein schreckliches Gefühl hatte er, als er während der paar Schritte zum Bett hin merkte, daß an seiner Brust der Vater mit seiner Uhrkette spielte.“

Es gibt nicht viele Untersuchungen zum Thema Demenz in Kafkas Werk. Hier ist die Bachelorarbeit von Kirsti Ferch, „War Georg Bendemanns Vater dement?“ an der Linnéuniversität in Kalmar Vaxjö, Schweden eine lesens- und beachtenswerte Ausnahme.

Weder aus Kafkas Werk, noch seinem persönlichen Umfeld oder seiner Biografie lässt sich eine Erfahrung oder Auseinandersetzung mit der Altersdemenz belegen. Der Begriff und das Phänomen war allerdings auch schon zu Kafkas Lebzeiten bekannt.

Wer selber Erfahrung mit Demenz im persönlichen Umfeld hat, insbesondere wenn es die eigenen Eltern betrifft, so kann man kaum umhin, den Vater in „Das Urteil“ voreingenommen zu betrachten, denn es gibt so viele Parallelen zu beobachten: wie das Leben durch den Verlust eines Partners durcheinander gerät, vielleicht die Demenz auch erst sichtbar wird, da sie nicht mehr vom Partner kompensiert wird, die Pflegebedürftigkeit, das Schwanken zwischen unbändiger Wut und kindlicher Unschuld, das Misstrauen und vieles mehr.


Kafka gehört – In Ohmacht gefallen

Am Abend des 10. Novembers 1917 las Franz Kafka unter dem Titel „Tropische Münchhausiade“ seine noch unveröffentlichte Novelle „In der Strafkolonie“. Einer der anwesenden Zuhörer, Max Pulver (schweizerischer Schriftsteller und Graphologe, 1889 – 1952), schilderte diesen Abend und Franz Kafkas Lesung Jahrzehnte später in seinen Memoiren folgendermaßen

„[…] Wie er sprach habe ich vergessen. Mit den ersten Worten schien sich ein fader Blutgeruch auszubreiten, ein seltsam fader und blasser Geschmack legte sich mir auf die Lippen. Seine Stimme mochte entschuldigend klingen, aber messerscharf drangen seine Bilder in mich ein, Eisnadeln voller abgründiger Quälerei. Nicht nur wurden ein Marterwerkzeug und eine Marter beschrieben in den Worten gedämpfter Ekstase des Peinigers und Vollstrecker. Auch der Hörer wurde in diese Höllenqualen hineingerissen, auch er lag als Opfer auf dem wippenden Marterbett, und jedes Wort ritzte als neuer Stachel die langsame Hinrichtung in seinen Rücken.
Ein dumpfer Fall, Verwirrung im Saal, man trug eine ohnmächtige Dame hinaus. Die Schilderung ging inzwischen fort. Zweimal noch streckten seine Worte Ohnmächtige nieder. Die Reihen der Hörer und der Hörerinnen begannen sich zu lichten. Manche flohen im letzten Augenblick, bevor die Vision des Dichters sie überwältigte. […]“

(Max Pulver, „Erinnerungen an eine europäische Zeit“, Zürich 1953)

Die geschilderte Situation ist eine der am häufigsten zitierten Anekdoten aus dem Leben und Wirken von Franz Kafka, jedoch gehört sie in den Bereich der Legenden – leider sitzen jedoch zahlreiche Medien wie Webseiten (wie z.B. die Online-Lernplattform studysmarter.com) dieser Legende ungeprüft auf.

Die Lesung hat es in der Tat gegeben und er findet in der Presse wie den „Münchener Neueste Nachrichten“ am 11.11.1916, in der „Münchener Zeitung“ am 12.11.1916 und in „München-Augsburger Abendzeitung“ am 13.11.1916 eine kritisch Resonanz – in keinem dieser Artikel wird jedoch von Ohnmachten oder die Sitze verlassenden Zuhörer berichtet. Man kann sich auch nur schwer vorstellen, dass ein Autor seinen Text einfach weiterliest, während die Damen in Ohnmacht fallen und sich die Reichen lichten – und dennoch: auch wenn sich Max Pulver in seinen Erinnerungen irrt, so sind sie doch schön zu lesen.

(Quelle: Jürgen Born et al., Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912 – 1924, S.Fischer, 1979)


Fabula docet

Eine Fabel soll, meist aus den Stimmen und Handlungen von Tieren, uns Lesern Moral und Lebensklugheit vermitteln, sie soll belehren, so dass man am Ende der kurzen Prosa zusammenfassen kann: „und die Moral der Geschichte ist…“. So weit so gut, bis wir Kafka lesen.

Kleine Fabel

„Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ – „Du mußt nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.

(Franz Kafka, aus dem Nachlass)

Welch Ironie. Die Lehre, die uns die Katze mitteilt, ist in sich stimmig und auch allgemeingültig, aber nicht für den Adressaten, die Maus. Für die Maus ist der Rat und die Moral nicht mehr annehmbar, auch wenn sie den Rat noch befolgen könnte, sie sitzt in der Falle: entweder Katze oder Mausefalle.

In diesem kleinen Text, einer der bekanntesten von Kafka, finden wir auf der einen Seite eine düstere, pessimistische Grundstimmung – die ist uns bei Kafka nicht fremd – und auf der anderen Seite die Ironie und der Humor. Auch wenn die Geschichte für die Maus nicht gut endet, so können wir uns das schadenfreudige Gesicht der Katze ganz gut vorstellen und müssen dabei vielleicht auch ein wenig schmunzeln.

Für die Maus gibt es keinen Ausweg, das weiß sie und beginnt ihre Ausführung mit der klagenden Interjektion „Ach“. Der hypotaktische Satzbau lädt zum schnellen Lesen ein und komprimiert dadurch Raum und Zeit. Der Gedanke der Maus über Weite und Enge ihrer Wege ist eine Metapher auf das Leben. Am Anfang liegt das ganze Leben noch vor uns, wir wissen gar nicht wohin wir uns entwickeln und mit der Zeit erscheint es immer enger, die alternativen Lebenswege schwinden. Am Ende ist es jedoch auch gleich, denn am Ende steht der Tod.


Kafka in 60 Minuten…

… ist der Titel von Walther Ziegler hervorragender und gut lesbaren Einführung in das Werk von Franz Kafka aus der Sicht eines Philosophen. Dr. Walter Ziegler, promovierter Philosoph und Hochschulllehrer, ist der Autor der bekannten Buchreihe „Große Denker in 60 Minuten“, ein Taschenbuchformat, in dem er sich kurz und bündig, sachlich exakt aber immer gut verständlich auf ca. 120 bis 140 Seiten den Hauptthesen und Wirkungen bedeutender Philosophen und anderer Denker widmet, z.B. „Schopenhauer in 60 Minuten“, „Kant in 60 Minuten“, „Platon in 60 Minuten“ oder „Konfuzius in 60 Minuten“ um nur ein paar wenige zu nennen. Diese Reihe ist grandios und sei an dieser Stelle ganz besonders empfohlen, sie macht immer Lust auf tieferes Verständnis und Lektüre der Hauptwerke der entsprechenden Denker.

In dem Titel „Kafka in 60 Minuten“ widmet sich Dr. Walther Ziegler, der selbst seine Dissertation im Jahr 1992 zum Thema „Die Struktur zwischenmenschlicher Beziehung“ verfasste, der „philosophischen Entdeckung“ Kafkas, wie sehr der Mensch auf die Gesellschaft und den Zuspruch der anderen angewiesen ist, um ein gelungenes Leben führen zu können.

„In allen seinen Romanen und Novellen wirft Kafka einen unbestechlichen Blick auf die Fragilität der zwischenmenschlichen Beziehung. Wie keinem anderen gelingt es ihm, die existentielle Angewiesenheit der Menschen auf andere Menschen zu erfassen […] Die Menschen sind, so Kafka, wie Bergsteiger in einer Art Seilschaft miteinander verbunden, um ihre Existenz gegenseitig abzusichern. Ein Leben lang bekommen sie Halt durch den Seins-Zuspruch und die Anerkennung ihrer Mitmenschen. Doch diese Angewiesenheit auf den Zuspruch der anderen birgt strukturell auch immer die Gefahr, von diesen nicht – oder nicht mehr – anerkannt zu werden.“

(Ziegler, S. 8f.)

Diese präzise und berechtigte Interpretation der Prosa Kafkas wird im folgenden von Walter Ziegler an den Werke „Die Verwandlung“, „Der Steuermann“ (aus dem Nachlass), „Ein Hungerkünstler„, „Der Prozeß“ und „Das Urteil“ verdeutlicht und mit zahlreichen Textstellen und Interpretationen belegt und gedeutet.

Schließlich zieht er das Fazit:

„Kafka zeigt uns in seinen Erzählungen und Romanen auf subtile Weise das Scheitern zwischenmenschlicher Beziehungen. Seine Helden verwandeln sich in einen Käfer, werden vom Vater totgesagt, als Steuermann ausgetauscht, im Hungerkäfig vergessen, oder von unbekannten beschuldigt und hingerichtet. Keinem seiner Helden gelingt es, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Zu sehr fehlt es ihnen an Selbstsicherheit und Vitalität. Doch hinter jeder dieser Geschichten des Scheiterns steckt ein verbogener Hinweis auf die anthropologische Struktur gelingender zwischenmenschlicher Beziehungen. […] Das „Kafkaeske“, das uns in seinen Erzählungen begegnet, kennen wir aus den eigenen Träumen und bisweilen aus der realen Welt. Es ist letztlich nichts anderes als die tiefe Verunsicherung, nicht als das wahrgenommen und bestätigt zu werden, was wir sind und was wir sein können.“

(Ziegler, S. 124f.)

Wer selbst einmal diese Verunsicherung erlebt hat, sie noch erlebt oder sich in diese Verunsicherung hineinversetzen kann, der ist offen für die Texte Kafkas. Und umgekehrt gilt auch, wer die eine solche Verunsicherung noch nicht erlebt hat, kann durch die Lektüre von Kafka eine Empathie für derart Verunsicherte entwickeln. Denn laut Ziegler verschafft uns Kafka auch Trost:

„Ausnahmslos alle seine Protagonisten sind auf einer ruhelosen Suche, einer Suche, die trotz größter Anstrengung nicht ans Ziel führt. Sie kommen nie wirklich im Leben an. Kafka hat für eine Helden und auch für seine Leser keine Lösungen parat, keine Wendepunkte zum Besseren, kein Happy End. Im Gegenteil, seine Erzählungen ziehen uns unwiderstehlich in einen Strudel emotionaler Heimatlosigkeit. Und dennoch haben sie für jeden von uns eine leise und tröstliche Botschaft.
Wer einmal wieder den ganzen Tag lang nicht wirklich im Leben angekommen ist oder morgens aus dem kafkaesken Traum erwacht, weiß: Er ist damit nicht allein.“

(Ziegler, S. 128)

Quelle: Walther Ziegler, „Kafka in 60 Minuten“, Books on Demand, Norderstedt 2021)


Der Steuermann

„Bin ich nicht Steuermann?“ rief ich. „Du?“ fragte ein dunkler hochgewachsener Mann und strich sich mit der Hand über die Augen als verscheuche er einen Traum. Ich war gestanden am Steuer in der dunklen Nacht, die schwachbrennende Laterne über meinem Kopf und nun war dieser Mann gekommen und wollte mich beiseite schieben. Und da ich nicht wich, setzte er mir den Fuß auf die Brust und trat mich langsam nieder, während ich noch immer an den Naben des Steuerrads hing und beim Niederfallen es ganz herumriß. Da aber faßte es der Mann, brachte es in Ordnung, mich aber stieß er weg. Doch ich besann mich bald, lief zu der Luke, die in den Mannschaftsraum führte und rief: „Mannschaft! Kameraden! Kommt schnell! Ein Fremder hat mich vom Steuer vertrieben!“ Langsam kamen sie, stiegen auf aus der Schiffstreppe, schwankende müde mächtige Gestalten. „Bin ich der Steuermann?“ fragte ich. Sie nickten, aber Blicke hatten sie nur für den Fremden, im Halbkreis standen sie um ihn herum und als er befehlend sagte: „Stört mich nicht“, sammelten sie sich, nickten mir zu und zogen wieder die Schiffstreppe hinab. Was ist das für Volk! Denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde?

(Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, S. 324, Frankfurt/Main 2002)

Der obige im Original unbetitelte Text aus dem Nachlass Kafkas ist Ende 1920 entstanden und schildert, wie so oft in Kafkas Werken, eine Situation, in der ein Mensch ganz plötzlich alleine gelassen wird. Dieses Motiv der Verstoßung aus der Gesellschaft findet sich auch im Prozess, im Urteil, in der Verwandlung, im Hungerkünstler, im Verschollenen und an vielen anderen Stellen wieder.

Diese Geschichte ist auf zwei Weisen zu interpretieren: zum einen gesellschaftlich und psychologisch, dass dem modernen Menschen bewusst werden muss, dass er jederzeit und ohne großen Widerstand ersetzbar ist und zum anderen politisch, dass die Masse (hier die Seeleute) blind und sinnlos durch das Leben wandern und ihre Führung unkritisch jedem beliebigen überlassen.

Auch dieser Text kann in seiner prägnanten Kürze einmal mehr aufzeigen, wie modern Franz Kafka auch heute noch ist.


Die Herrlichkeit des Lebens

„Es ist sehr gut denkbar, daß die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft.“

(Tagebuch, 18. Oktober 1921)

Das Glück liegt oft vor unseren eigenen Füßen und muss nur aufgehoben werden und auch Franz Kafka kann, dies zeigt dieser Tagebucheintrag, durchaus optimistisch in die Welt blicken.

„Die Herrlichkeit des Lebens“ ist ebenso ein Romantitel des deutschen Autors Michael Kumpfmüllers. In dem 2011 erschienenen Buch widmet sich der Autor in fiktiver Weise, jedoch an den realen Begebenheiten sich orientierend, dem letzten Lebensjahr von Franz Kafka und seiner Liebesbeziehung zu Dora Diamant.

Der Roman hat in der Literaturkritik durchaus positive Stimmen bekommen, so schrieb zum Beispiel die FAZ:

„Unstillbarer Durst nach Leben: Michael Kumpfmüller hat mit „Die Herrlichkeit des Lebens“ einen Roman voller Würde geschrieben. Er zeigt uns einen erfüllten Franz Kafka und bringt Licht in das Rätsel Dora Diamant.“

(FAZ. 19.08.2021)

Auf Basis diese Buches feiert auch der Film „Die Herrlichkeit des Lebens“ am 21.03.2024 Premiere in den deutschen Kinos. Unter der Regie von Georg Maas spielen Sabin Tambrea die Rolle des Franz Kafka und Henriette Confurius die Rolle der Dora Diamant.

Für das Wochenende am 23. und 24. März können wir also schon mal einen Kinobesuch einplanen.


Ein Autor wird zum Adjektiv – kafkaesk

Nur wenigen Autoren wird die Ehre zuteil, dass aus ihrem Namen ein Adjektiv gebildet wird: kafkaesk.

Wenngleich auch noch im Duden als Teildefinition „in der Art Kafkas“ zu finden ist, so ist dies nicht als die eigentlich Bedeutung des Wortes zu betrachten. Kafkaesk ist die unheimliche, lakonische geschilderte Bedrohung der man nicht ausweichen kann, ein Unheil, das hingenommen werden muss, eine grotesk-absurde Situation, die selbstverständlich erscheint. Ein gutes und vermutlich das berühmteste Beispiel ist der Anfangssatz aus dem Prozess – vielleicht einem der berühmtesten Sätze der Weltliteratur im 20. Jahrhundert überhaupt:

„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“

(Franz Kafka, Der Prozess)

Neben Kafka ist es der griechische Dichter Homer, der im Adjektiv „homerisch“ verewigt und der italienische Dichter Dante, der in „dantesk“ heute noch gewürdigt wird. Das homerische Gelächter ist das schallende Gelächter der Götter, das Homer zum Beispiel in der Ilias I, 599 als „unermeßlich Lachen erscholl den seligen Göttern“ oder in der Odyssee VIII, 325 als „ein langes Gelächter erscholl bei den seligen Göttern“ beschreibt. Dantesk beschreibt etwas Leidenschaftliches, Erschreckendes oder auch Gewalttätiges, doch seien wir ehrlich: homerisch und dantesk werden hier nur der bildungssprachlichen Vollständigkeit wegen genannt. In der freien Wildbahn der gesprochenen und geschriebenen Sprache sind sie so selten anzufinden wie der Yeti im Himalaja.

Anderen großen Dichter wie Goethe, Shakespeare, Heine oder Rilke wurde diese Ehre nicht zuteil, aber sie werden es wohl verschmerzen können.

Kafkaesk hingegen wird schon beinah inflationär verwendet, so dass wir gut beraten sind, all jenen zu mißtrauen, die das Wort allzu leichtfertig gebrauchen und schon jeden Behördengang als kafkaesk empfinden. Wenn kafkaesk als Modewort oder Ausdruck einer vermeintlichen Bildung verwendet wird, verstellt es nur den Blick auf Autor und Werk.


Sie haben mich unglücklich gemacht

Am 10. April 1917 schreibt Dr. Siegfried Wolff, ein Berliner Leser der Verwandlung, hilfesuchend an Franz Kafka:

Sehr geehrter Herr,
Sie haben mich unglücklich gemacht.
Ich habe Ihre Verwandlung gekauft und meiner Kusine geschenkt. Die weiß sich die Geschichte aber nicht zu erklären.
Meine Kusine hats ihrer Mutter gegeben, die weiß auch keine Erklärung. Die Mutter hat das Buch meiner andern Kusine gegeben und die hat auch keine Erklärung. Nun haben sie an mich geschrieben. Ich soll ihnen die Geschichte erklären. Weil ich der Doctor der Familie wäre. Aber ich bin ratlos.
Herr! Ich habe Monate hindurch im Schützengraben mich mit dem Russen herumgehauen und nicht mit der Wimper gezuckt. Wenn aber mein Renommee bei meine Kusinen zum Teufel ginge, das ertrüge ich nicht.
Nur Sie können mir helfen. Sie müssen es; denn sie haben mir die Suppe eingebrockt. Also bitte sagen Sie mir, was meine Kusine sich bei der Verwandlung zu denken hat.


Mit vorzüglicher Hochachtung ergebenst
Dr Siegfried Wolff

Dieser Leser spricht uns aus der Seele. Leider wissen wir (noch) nicht, ob die Kusinen von Herrn Dr. Wolff letztlich die Verwandlung zu deuten wussten, ob Franz Kafka eine Antwort schrieb und wie es am Ende um das Renommee des Herrn Dr. Wolffs bestellt war. Nur eines wissen wir nach hundert Jahren Kafka-Rezeption ganz gewiss: die eine, allumfassende Antwort auf die Fragen der Kusinen wird es nicht geben. Die existentiellen Fragen, die Kafka in seinen Werken stellt, bleiben unbeantwortbar.


Kafka und die verlorene Puppe

Am 27. März erscheint im S. Fischer Verlag Sauerländer „Herr Kafka und die verlorene Puppe“ von Larissa Theule und Rebecca Green. Es handelt sich um eine weitere Adaption einer oft zitierten Kafka-Anekdote. Demnach begegnete Franz Kafka 1923 in Berlin bei einem Spaziergang einem weinenden Mädchen, das ihre Puppe verloren hatte. Kafka tröstete das Mädchen damit, dass er ihr erzählte, die Puppe sei auf Weltreise und werde dem Mädchen sicherlich Briefe schreiben. Diese Briefe las Kafka dem Mädchen dann in den nächsten Tagen bei seinen weiteren Spaziergängen vor.

Eine Quelle dieser Anekdote ist der Band „Als Kafka mir entgegenkam“ von Hans-Gerd Koch im Wagenbachverlag. In dieser Sammlung von Erinnerungen, wird Dora Diamant folgendermaßen zitiert:

„[…] Als wir in Berlin waren, ging Kafka oft in den Steglitzer Park. Ich begleitete ihn manchmal. Eines Tages trafen wir ein kleines Mädchen, das weinte und ganz verzweifelt zu sein schien. Wir sprachen mit dem Mädchen. Franz fragte es nach seinem Kummer, und wir erfuhren, daß es seine Puppe verloren hatte. Sofort erfindet er eine plausible Geschichte, um dieses Verschwinden zu erklären: ‚Deine Puppe macht nur gerade eine Reise, ich weiß es, sie hat mir einen Brief geschickt.‘ Das kleine Mädchen ist etwas mißtrauisch: ‚Hast du ihn bei dir?‘ ‚Nein, ich habe ihn zu Hause liegen lassen, aber ich werde ihn dir morgen mitbringen.‘ Das neugierig gewordene Mädchen hatte seinen Kummer schon halb vergessen und Franz kehrte sofort nach Hause zurück, um den Brief zu schreiben.
Er machte sich mit all dem Ernst an die Arbeit, als handelte es sich darum, ein Werk zu schaffen […] Es war übrigens eine wirkliche Arbeit, die ebenso wesentlich war wie die anderen, weil das Kind um jeden Preis vor einer Enttäuschung bewahrt […] werden mußte.“

Diese „zu Herzen gehende Bilderbuchgeschichte von der tröstenden Kraft der Phantasie“, wie die S. Fischer Verlage sie beschreibt, wurde bereits mehrfach adaptiert, z.B. in Gerd Schneiders „Kafkas Puppe“ im arena Verlag, erschienen 2008. Es ist eine schöne Anekdote, man kann sich dies auch durchaus gut vorstellen und die oben genannten Bücher sind für sich und fiktional betrachtet auch durchaus lesenswert und dennoch: es gibt für diese oft als „wahre Begebenheit“ erzählte Anekdote keine Belege. Niemand weiß, wie das Mädchen hieß, die Briefe wurden bis heute nicht gefunden, es gibt keinen weiteren Belege oder Zeugen für diese Anekdote und schließlich wurde Dora Diamant auch niemals direkt dazu befragt.

Was ich am interessantesten an der ganzen Geschichte und allen Adaptionen und Nacherzählungen finde, ist die Tatsache, dass Dora Diamant aus der Geschichte bei Schneider als auch Theule einfach entfernt wird. Berichtet Dora Diamant von der gemeinsamen Begegnung mit dem Mädchen, so ist es bei allen Adaptionen immer nur Franz Kafka, der dem Mädchen begegnet.