Archives: März 31, 2024

Schakale und Araber in Österreich

Am 3. Dezember 1917 erscheint in der „Literaturzeitung“ der Österreichischen Morgenzeitung und Handelsblatt Kafkas Geschichte „Schakale und Araber“ und am 25. Dezember 1917 in der Weihnachtsbeilage derselben Zeitung Kafkas „Bericht an eine Akademie“ – beides, wie wir heute wissen, unerlaubte und unbezahlte Nachdrucke von den Werken Franz Kafkas.

Kafka selbst hatte zu Lebzeiten davon erfahren, denn er schrieb in einem Brief an Max Brod am 27. Januar 1918:

„[…] Der Schriftstellerverein (der von der „Feder“) meldet mir einen unberechtigten Nachdruck des Berichts für eine Akademie in einer „Österreichischen Morgenzeitung“ und will eine Ermächtigung, ein Honorar von 30 M (gegen Rückbehaltung von 30%) für mich eintreiben dürfen. Soll ich das tun? Die 20 M wären mir sehr lieb z.B. für den weiteren Kierkegaard. Aber dieser Verein ist eine schmutzige Sache, das Eintreiben auch und die Zeitung ist vielleicht jene jüdische Zeitung. Soll ich also? […]“

(Franz Kafka, Briefe 1918 – 1920, Frankfurt/Main 2013, S. 24 ff.)

So wandte sich Kafka zweimal hilfesuchend an Max Brod, da er zum einen das Geld gut gebrauchen konnte, denn er war, nach seinem Tuberkuloseausbruch im August 1917 zu dieser Zeit von der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt beurlaubt und verbrachte einige Monate bei seiner Schwester Ottla in Zürau und zum anderen wusste er wirklich was er wie tun konnte. Die Antwort von Max Brod ist leider nicht überliefert oder mir zumindest nicht bekannt.

Es wäre interessant zu wissen, warum Kafka den Verein oder „die Sache“ für schmutzig hielt. Der allgemeine Schriftstellerverein war eine Interessenvereinigung für Schriftsteller mit zahlreichen Mitgliedern, auch durchaus prominenten wie Karl May oder Hermann Löns, die sich um die finanzielle Unterstützung und Wahrung der Urheberrechte von Autoren bemühte. Nach der Gründung des Vereins 1900 mit einigen hundert Mitgliedern entwickelte sich der Verein sehr schnell zur größten Vertretung von Autoren, Dichtern und auch Journalisten im Deutschen Reich, bis er 1934 von den Nationalsozialisten im Reichsverband Deutscher Schriftsteller gleichgeschaltet wurde.


Das Verderben der Familie

Am 5. Dezember 1914 erhält Franz Kafka einen Brief von Erna Bauer, Schwester von Kafka ehemaliger Verlobten Felice Bauer, die zu einem Tagebucheintrag voller Selbstzweifel und Selbstvorwürfen führt:

„Ein Brief von Erna über die Lage ihrer Familie. Mein Verhältnis zu der Familie bekommt für mich nur dann einen einheitlichen Sinn, wenn ich mich als das Verderben der Familie auffasse. Es ist die einzige organische alles Erstaunliche glatt überwindende Erklärung, die es gibt. Es ist auch die einzige tätige Verbindung, die augenblicklich von mir aus mit der Familie besteht, denn im übrigen bin ich gefühlsmäßig gänzlich von ihr abgetrennt, allerdings nicht durchgreifender, als vielleicht von der ganzen Welt. (Ein Bild meiner Existenz in dieser Hinsicht gibt eine nutzlose, mit Schnee und Reif überdeckte, schief in den Erdboden leicht eingebohrte Stange auf einem bis in die Tiefe aufgewühlten Feld am Rande einer großen Ebene in einer dunklen Winternacht.) Nur das Verderben wirkt. Ich habe F. unglücklich gemacht, die Widerstandskraft aller, die sie jetzt so benötigen, geschwächt, zum Tode des Vaters beigetragen, F. und E. auseinandergebracht und schließlich auch E. unglücklich gemacht, ein Unglück, das aller Voraussicht nach noch fortschreiten wird.“

(Franz Kafka, Tagebücher, Frankfurt/main 2022, S. 704 f).

Der Brief von Erna Bauer ist überliefert und es lohnt sich diesen Brief zu lesen, denn damit stellt sich der komplette Tagebucheintrag vom 5. Dezember 1914 in Frage, es wundert nur noch, warum Franz Kafka jede noch so harmlose Gelegenheit nutzt, um sich selbst dergestalt zu erniedrigen.


Ein Panter über Kafka

Am 1. Dezember 1921 schreibt Kurt Tucholsky unter seinem Pseudonym „Peter Panter“ in der Weltbühne:

„Und am dritten Abend – hier sollte ich eigentlich eine neue Seite anfangen. Der dritte Abend brachte mir den bisher stärksten Eindruck diese Winnters. Ludwig Hardt las Franz Kafka. Wer Ludwig Hardt ist, wissen die Leute zwar – ohne nun etwa scharenweise in Vortragsabende zu laufen, deren Programm sie bei Andern dauernd postulieren. Seit fünfzehn Jahren keine Konzession – das ist viel. Und seit fünfzehn Jahre reife und volle Sprechkunst – das ist mehr. Diesmal unter anderen herrlichen Dingen: Franz Kafka. Wer das ist, wissen leider noch viel zu wenige – ich habe einmal über seine Strafkolonie referiert und will es nächstens über den ganzen Mann tun. Er ist ein Großsohn von Kleist – aber doch ganz selbständig. Er schreibt die klarste und schönste Prosa, die zur Zeit in deutscher Sprache geschaffen wird. Er blüht von Phantastischem und Phantasie – aber fest und sachlich sind Sätze und Rhytmus gestaltet. Nichts von der konventionellen Weichheit Prags, in welcher Stadt er wohnt – nichts von Modeströmung. Das ist auf einer anderen Welt gewachsen.“

(Jürgen Born [Hg.]: Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912 – 1924, Frankfurt/Main 1979)

Kurt Tucholsky (1890 – 1935) hatte sich schon im Januar 1913 sehr wohlwollend in einem Artikel im Prager Tagblatt zu Kafkas Betrachtung geäußert und am 3. Juni 1920 über die Strafkolonie unter seinem Pseudonym Peter Panther. Diesen Artikel kannte Kafka zwar nicht jedoch erfuhr er von dieser Rezension sowohl von Felix Weltsch als auch in einem Brief von Max Brod vom 9. Juni 1920:

Liebster Franz –

Zuerst zwei Nachrichten, die dich freuen dürften: 1.) In der Weltbühne las Felix (nicht ich) einen großen Aufsatz von Peter Panther (Tucholski?) über deine „Strafkolonie“, sehr entzückte Vergleiche mit Kleis u.s.f. […]“

(Franz Kafka, Briefe 1918 – 1920, Frankfurt/Main , S. 729)

Franz Kafka und Kurt Tucholsky kannten sich auch persönlich, zumindest ist ein Treffen von Ende September 1911 in Kafkas Tagebuch überliefert:

„Tucholski und Safranski. das gehauchte Berlinerisch, in dem die Stimme Ruhepausen braucht, die von „nich“ gebildet werden. Der erste ein ganz einheitlicher Mensch von 21 Jahren. Vom gemäßigten und starken Schwingen des Spazierstocks, das die Schulter jugendlich hebt, angefangen bis zum überlegten Vergnügen und Mißachten seiner eigenen schriftstellerischen Arbeiten.“

(Franz Kafka, Tagebücher, Frankfurt/Main 2002, S. 46)

Vermutlich lernte Kafka den damaligen Jurastudenten Kurt Tucholsky und den Zeichner Kurt Szafranski kennen, als die beiden Berliner Ende September 1911 für ein paar Tage in Prag verweilten und dabei Max Brod einen Besuch abstatteten. Dies ist die einzige überlieferte Begegnung zwischen Tucholsky und Kafka.


Jørgen Peder Müller in Prag

Am 16. November 1906 war Jørgen Peder Müller, im deutschsprachigen Raum meist nur J.P. oder Johann Peter Müller genannt, in Prag um sein System seiner täglichen Fitnessübungen zu demonstrieren. Das sogenannte „Müllern“ und das zugrundeliegende Buch „Mein System“, im Erscheinungsjahr 1904 direkt aus dem Dänischen ins Deutsche übersetzt, waren in ganz Europa ein großer Erfolg und sehr populär. Auch Franz Kafka pflegte mit Hingabe zu „müllern“ und er verlangte die selbe Hingabe auch von Felice Bauer. So schreibt er in einem Brief an Felice Bauer auf Sylt vom 14. August 1913:

„Auf dem Müllern besteh ich durchaus, das Buch geht heute ab, wenn es langweilig ist, so machst Du es nicht gut, strenge Dich an, es ganz genau (natürlich in sehr vorsichtigem Fortschreiten!) zu machen und es wird Dich schon infolge seiner gleich spürbaren Wirkung nicht langweilen können […]“

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, S. 262)

Das Buch, von dem Kafka hier spricht, hat er am 7. August 1913 in einem Brief an Felice Bauer angekündigt:

„Das Versprechen, das ich Dir in bianco abgenommen habe und für das ich Dir vielmals danke, betrifft das „Müllern“. Ich werde Dir nächstens das „System für Frauen“ schicken und Du wirst (denn Du hast es doch versprochen, nicht?) langsam, systematisch, vorsichtig, gründlich, täglich zu „müllern“ anfangen, mir darüber immer berichten und mir damit eine große Freude machen.“

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, S. 255)

Auch wenn uns die Antwort von Felice Bauer leider nicht überliefert ist, so können wir doch zwischen den Zeilen erahnen, dass die Verlobte nicht unbedingt begeistert gewesen war. Auch die Vorstellung, dass Kafka jeden Abend bei „10 Minuten Turnen, nackt bei offenen Fenster“ (so schrieb ihr Kafka in einem Brief am 1. November 1912) zu sehen war, passte nur schwer in die gutbürgerliche Welt von Felice Bauer

Der dänische Ausnahmesportler Jørgen Pedder Müller (1866 – 1938), der in über 100 Sportarten Meister- und Wettkamptitel gewann, hatte sein persönliches Fitnesstraining unter dem Titel „Mein System. 15 Minuten täglicher Arbeit für die Gesundheit“ 1904 veröffentlicht. Dieser Titel wurde sehr schnell in ganz Europa zu einem Bestseller und es kam zu Nachfolgetiteln wie „Mein System für Frauen“ und „Mein System für Kinder“.

Die Anwesenheit von Jørgen Pedder Müller im November 1904 in Prag und seine persönliche öffentliche Vorstellung war eine Sensation über die das Prager Tagblatt vom 14. bis zum 17. November 1904 ausführlich berichtete und auch in knapper Form die Übungen wiedergab. Auch für die Prager Damenwelt war es sicherlich reizvoll einen beinah nackten, prominenten Athleten zu bestaunen.

Am 17. November 1906 schrieb das Prager Tagblatt:

„Mein System in Prag. Gestern führte Herr Müller sein System im Spiegelsaal des Deutschen Hauses vor. Der Saal war von einem noblen Publikumbis aus das letzte Plätzchen gefüllt, so daß viele Schaulustige keinen Einlaß mehr fanden. Anwesend waren viele Damen. Universitäts- und Mittelschulprofessoren. Offiziere, Ärzte. Sportsleute und sonstige Interessenten, die den von uns bereits genügend gewürdigten Ausführungen und Demonstrationen Müllers mit großem Interesse folgten.

Es kann angenommen werden, dass unter diesen Interessierten auch der 23jährige Franz Kafka den Demonstrationen Müllers begeistert folgte, da es zahlreiche Belege gibt, dass Kafka zu den begeisterten Müller-Anhänger gehörte. Neben den obigen Briefen aus dem Jahr 1913 gibt es auch Briefe an Max Brod im Jahr 1910 in denen er vom Müllern spricht, zum Beispiel am 10. März 1910:

„In die Lucerna komme ich nicht Max. Jetzt um 4 Uhr bin ich im Bureau und schreibe und morgen nachmittag werde ich schreiben und heute abend und morgen abend und so fort. Auch reiten kann ich nicht. Gerade noch das Müllern bleibt mir.“

(Franz Kafka, Briefe 1900 – 1912, Frankfurt/Main 1999, S. 118)

Oder nur zwei Tage später am 12. März 1910:

„[…] Trost aber brauche ich. Zu rechter Zeit haben jetzt Magenschmerzen und was Du willst angefangen und so stark, wie es sich bei einem durch Müllern stark gewordenen Menschen passt […]“

(Franz Kafka, Briefe 1900 – 1912, Frankfurt/Main 1999, S. 118)

Auch wenn das Müllern aus heutiger Sicht an zahlreichen Stellen zu kritisieren ist, es ist unumstritten, dass Jørgen Peder Müller einer der Mitbegründer der modernen Fitnessbewegung ist.

Leider ist es nur schwer die Originalausgabe von 1904 noch antiquarisch zu finden, jedoch wurde das Buch an verschiedenen Stellen digitalisiert, z.B. findet es sich in der Wellcome Collection. Es ist durch eine amüsante Lektüre wert.


100 Jahre Zauberberg

Am 20. November 1924 erschien Thomas Mann „Der Zauberberg“ in zwei Bänden im Fischer Verlag – ein Buch, das Franz Kafka nicht mehr lesen konnte. Wir können leider auch nicht wissen, ob er es gelesen hätte, da wir nur ahnen können, dass Kafka Thomas Mann gerne gelesen hat, denn in einem Brief an Max Brod vom 13. Oktober 1917 schreibt Kafka: „Mann gehört zu denen, nach deren Geschriebenen ich hungere.“ Das klingt nach einem Vielleser, doch es gibt nur wenige autobiographische, schriftliche Belege für Kafkas Lektüre von Thomas Mann. Neben dem bereits zitierten Satz aus dem Oktober 1917, fällt die erste dokumentierte Mann-Lektüre in das Jahr 1904 als Kafka gerade 21 Jahre alt war. Ebenfalls in einem Brief an Max Brod schreibt Kafka:

„Ich wunderte mich, daß Du mir nichts über Tonio Kröger geschrieben hast. Aber ich sagte zu mir: „Er weiß wie froh ich bin wenn ich einen Brief von ihm bekomme und über Tonio Kröger muß man etwas sagen.“

(Franz Kafka, Briefe 1900 – 1912, Frankfurt/Main 1999, S. 41)

In dem weiteren Briefverlauf erläutert Kafka eine Ähnlichkeit zwischen der Novelle „Ausflug ins Dunkelrothe“ von Max Brod und Thomas Manns „Tonio Kröger“ und diese Ausführungen legen nahe, dass Kafka mit dem „Tonio Kröger“ vertraut war. Damit endet allerdings die Liste der Lektürebelege des „hungrigen Lesers“ Franz Kafka. Der zu Kafkas Lebzeiten 1901 erschienene Roman „Die Buddenbrooks“ – immerhin die Grundlage von Thomas Mann Weltruhm und die Begründung des Nobelpreises – oder der 1911 erschienene „Tod in Venedig“ wie auch viele weitere Erzählungen und Novellen bleiben in Kafkas Briefen und Tagebücher ohne Erwähnung. Auch das beschreibende Verzeichnis „Kafkas Bibliothek“ von Jürgen Born verzeichnet kein Buch von Thomas Mann in Kafkas Bibliothek.

Der nach Thomas Mann hungernde Franz Kafka gibt uns auch hier wieder ein Rätsel auf.


Felice Bauers 137. Geburtstag

Felice Bauer gehört sicherlich zu den bekanntesten Frauen im Leben von Franz Kafka und auch zu den Frauen, die ihn, sein Leben und sein Werk nachhaltig geprägt haben… aber davon soll hier nicht die Rede sein, denn Felice führte ein durchaus selbstbewusstes Leben. Am 18. November 1887 wird Felice Bauer im oberschlesischen Neustadt, heute Prudnik, das ca. fünf Kilometer nördlich der tschechischen Grenze liegt, geboren. Die Familie, das heißt ihren Vater Carl Bauer und ihre Mutter Anna Bauer, geborene Danzinger, und die mittlerweile fünf Kinder zieht es 1899 nach Berlin, wo Felice die Schule besucht und 1908 Stenotypisten bei der Schallplattenfirma Odeon wird. Felice strebt nach mehr und wechselt 1909 zur Carl Lindström AG – Hersteller von Parlographen. Hier macht sie schnell Karriere, bekommt Verantwortung, leitet den Vertrieb, reist im Auftrag der Firma durch ganz Deutschland und erhält sogar Prokura – in der damaligen Zeit alles nicht unbedingt selbstverständlich für eine Frau – und schon mal recht nicht für eine ledige Frau.

Am 13. August 1913 wird Felice Bauer bei der Familie Brod auf Franz Kafka treffen – was beider Leben verändern wird. Aber das ist eine andere Geschichte.

Felice Bauer wird es noch rechtzeitig aus Deutschland heraus schaffen. Mit ihrem Mann Moritz Marasse, den sie 1919 heiratet, und ihren gemeinsamen zwei Kindern, reist sie 1931 in die Schweiz und 1936 weiter in die USA, wo sie bis zu ihrem Tod am 15. Oktober 1960 leben wird.

Kafkas Briefe an Felice zählen noch heute zu einem der wichtigsten Zeugnisse zu Kafkas Leben und ebenso auch seiner schriftstellerischen Arbeitsweise. Felice Bauer hatte diese Briefe aufbewahrt und in den 50er Jahren dem damaligen Kafka-Verlag Schocken Books aus Geldnot heraus verkauft.


Eltern sind wie Wucherer

Am 12. November 1914 schreibt Kafka in sein Tagebuch:

„Die Eltern die Dankbarkeit von ihren Kindern erwarten (es gibt sogar solche, die sie fordern) sind wie Wucherer, sie riskieren gern das Kapital, wenn sie nur die Zinsen bekommen.“

(Franz Kafka, Tagebücher, Frankfurt/Main 2002, S. 698)

Für sich alleine betrachtet ein schöner Aphorismus. Im Kontext von Kafkas Biographie ahnt man, da steckt mehr dahinter. Aber es ist nur eine Ahnung, denn weder die Briefe noch die Tagebucheinträge oder Werke um diesen Zeitraum herum lassen eindeutig erkennen, das hier mehr dahinter stecke als für sich allein betrachtet ein Aphorismus.

Themen, die Kafka in dieser Zeit besonders interessieren und sich auch im Tagebuch widerspiegeln, sind einerseits der Verlauf des Ersten Weltkrieges. Die gesamtgesellschaftliche Euphorie vom Beginn des Krieges ist längst verflogen und die ersten Verwundeten kehren nach Hause zurück. So auch Kafkas Schwager Josef Pollak, Ehemann seiner Schwester Valli, der zu Beginn des Novembers 1914 mit einer Schussverletzung für drei Wochen Heimaturlaub in Prag weilt und von den Schrecken des Krieges berichtet. Andererseits belastet ihn die Asbestfabrik immer mehr und auch das Wissen, dass Karl Hermann, Ehemann von Kafkas Schwester Elli, offensichtlich der Fabrik Geld entzieht. Die Zeit wird zudem überschattet von einer familiären Tragödie, denn Carl Bauer, der Vater von Felice Bauer stirbt am 5. November 1914. Hier ließe sich einiges ableiten, doch nichts führt zwingend zu der obigen Notiz.

Für sich allein betrachtet aber bleibt es ein schöner Aphorismus.


Nachdenken für Herrenreiter

Um den 10. November 1914 erschein der kurze Prosatext „Zum Nachdenken für Herrenreiter“ in „Das bunte Buch“ im Kurt Wolff Verlag Leipzig. „Das bunte Buch“ war der Jahresalmanach des Kurt Wolff Verlages, der in dieser Ausgabe Leseproben u.a. von Robert Walser, Else Lasker-Schüler, Max Brod, Georg Trakl, Georg Heym und vielen anderen enthielt. Alles Autoren, deren Texte in 1913 und 1914 im Kurt Wolff Verlag veröffentlicht wurden. Von Franz Kafka war 1913 seine erste Buchveröffentlichung „Betrachtung“ erschienen, die diesen Text über den unglücklichen Gewinner, den Neid der Neider, die Einsamkeit des Sieges beschreibt.

Zum Nachdenken für Herrenreiter

Nichts, wenn man es überlegt, kann dazu verlocken, in einem Wettrennen der erste sein zu wollen.
Der Ruhm, als der beste Reiter eines Landes anerkannt zu werden, freut bei Losgehn des Orchesters zu stark, als daß am Morgen danach die Reue verhindern ließe.
Der Neid der Gegner, listiger, ziemlich einflußreicher Leute, muß uns in dem engen Spalier schmerzen, das wir nun durchreiten nach jener Ebene, die bald vor uns leer war bis auf einige überrundete Reiter, die klein gegen den Rand des Horizonts anritten.
Viele unserer Freunde eilen den Gewinn zu beheben und nur über die Schultern weg schreien sie von den entlegenen Schaltern ihr Hurra zu uns; die Freunde aber haben gar nicht auf unser Pferd gesetzt, da sie fürchteten, käme es zum Verluste, müßten sie uns böse sein, nun aber, da unser Pferd das erste war und sie nichts gewonnen haben, drehn sie sich um, wenn wir vorüberkommen und schauen lieber die Tribünen entlang.
Die Konkurrenten rückwärts, fest im Sattel, suchen das Unglück zu überblicken, das sie getroffen hat, und das Unrecht, das ihnen irgendwie zugefügt wird; sie nehmen ein frisches Aussehen an, als müsse ein neues Rennen anfangen und ein ernsthaftes nach diesem Kinderspiel.
Vielen Damen scheint der Sieger lächerlich, weil er sich aufbläht und doch nicht weiß, was anzufangen mit dem ewigen Händeschütteln, Salutieren, Sich-Niederbeugen und In-die-Ferne-Grüßen, während die Besiegten den Mund geschlossen haben und die Hälse ihrer meist wiehernden Pferde leichthin klopfen.
Endlich fängt es gar aus dem trüb gewordenen Himmel zu regnen an.

Entstanden ist dieses Prosastück vermutlich zwischen 1907 und 1910 und wurde vielleicht auch durch die Reise nach Paris mit Max Brod beeinflusst, als sie in Paris die Pferderennbahn besuchten. Gerhard Oberlin deutet in „Kafka verstehen. Text und Deutung“ (Oberlin, Würzburg 2021, S. 82 f.) an, dass Herrenreiter als auch „Herrenmensch“ oder „Herrenrasse“ gelesen werden könne, die Gewinner möglicherweise die erfolgreichen Juden repräsentiere und der Neid der Neider als Antisemitismus gelesen werden könne. Bestreiten will ich diesen möglichen Ansatz hier nicht, doch denke ich, dass Kafka zum einen mit dem Pferdesport vertraut war und zum anderen den Begriff des „Herrenreiters“ durchaus in der damals und auch heute noch im Pferdesport üblichen Verwendung benutzte. Der Große Brockhaus in der 15. Auflage von 1931 kennt das Herrenreiten, ein Pferderennen, bei dem nur Herrenreiter (Amateurreiter, die keinerlei Vergütung für ihre Ritte annehmen) zugelassen werden.“
Kafkas Parabel verdeutlich zum einen, dass die Sieger oft allein in ihrem Siege sind, dass – wie wir es heute aus auch der Popkulur kennen – Prominenz und Erfolg viele Schattenseite hat, dass all dies aber auch zeitlich begrenzt hat, denn „endlich fängt es gar aus dem trüb gewordenen Himmel zu regnen“ an und wir wenden uns anderen Dingen zu.

Bildquelle: WDR/filmore-bergerarchiv


Kafka und die Schlacht bei Custozza

Am 10. November 1894, übrigens einem Samstag, besucht der elfjährige Franz Kafka in seinem zweiten Gymnasialjahr während eines Schulausflugs mit seinem Klassenlehrer die in Prag gastierende „Plastische Darstellung der Schlacht bei Custozza, die vom Prager Tagblatt am 8. Oktober 1894, einen Tag nach der Ausstellungseröffnung euphorisch gefeiert wird.

Der gesamte Artikel in der Rubrik „Vom Tage“ nimmt – für diese Rubrik im Prager Tagblatt eher ungewöhnlich – die Hälfte der Druckseite ein und greift neben der Darstellung der Ausstellung die Gelegenheit auf, in patriotischen Stolz den Lesern die Bedeutung dieser Schlacht erneut in Erinnerung zu rufen – so lesen wir u.a.:

„Die Darstellung dieser ruhmreichenSchlacht nimmt einen Raum von 84 Quadratmetern ein, ist plastisch meisterhaft durchgeführt und bis ins kleinste Detail naturgetreu […] Da die Darstellung auf dem Boden ausgebreitet ist, betrachtet der Zuschauer das imposante Schlachtbild aus der Vogelperspektive. An der denkwürdigen Schlacht nahm auch das Prager Hausregiment Nr. 28, das im linken Flügel der Brigade Birzt stand, rühmlichen Antheil. […] Der Besuch der Ausstellung kann jedermann wärmstens empfohlen werden, zumal für eine Verständlichmachung der Riesendarstellung durch eine um wenige Kreuzer erhältliche Brochure mit dem Plane des Schlachtfelds gesorgt ist.“

Zur Schlacht bei Custozza kam es im Dritten Italienischen Unabhängigkeitskrieg im Jahr 1866. Das Königreich Italien war erst wenige Jahre zuvor gegründet worden und die Italiener wollten in diesem Krieg u.a. die Region Venetien erobern. Dies gelang ihnen zwar nicht in diesem Kriege, da sie von den Österreichern besiegt wurden, jedoch wurde Italien die Region um Venedig nach der Schlacht bei Custozza durch Geheimabkommen zugesprochen. Für den österreichischen Nationalstolz war der öfffentlichkeitswirksame siegreiche Ausgang dieser Schlacht wichtiger als der Verlust der Region Venetien und insbesondere eine Wiederholung des Sieges der ersten Schlacht bei Custozza durch den General Radetzky im Jahr 1848.

Der Besuch dieser Ausstellung, die für etwa einen Monat in Prag täglich von 9 bis 17 Uhr und gegen einen Eintritt von 20 Kreuzern, zu sehen war, war für alle Schüler des Altstädter Gymnasiums an diesem Tage verbindlich und die Schulchronik schreibt zu diesem Ausflug:

„Behufs der Erziehung eines thunlichst nachhaltigen Erfolges dieser Beschauung waren die Schüler durch die P.T. Herren Fachlehrer der Geschichte auf den wesentlichen Inhalt und die hohe Bedeutung des bezüglichen Ereignisses entsprechend aufmerksam gemacht.“

Wir können uns durchaus vorstellen, dass die plastische Darstellung, also schlicht und ergreifend die Modelllandschaft mit der naturgetreuen Darstellung und den hunderten oder tausenden von Zinnsoldaten auf die noch verspielten Jungen im einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben und vielleicht waren sie auch ein bißchen neidisch auf dieses imposante „Spielfeld“, das sie sich gerne in ihr eigenes Kinderzimmer gewünscht hätten – auch ein Franz Kafka ist hiervon nicht ausgenommen.

Quellen:

  • Prager Tagblatt vom 8. Oktober 1894
  • Prager Abendblatt vom 7. Oktober1894
  • Hartmut Binder: Franz Kafka. Ein Leben in Bildern, Prag 2024

Der Einfluß von Joseph Loewy auf Kafkas Werk

Im aktuellen Kafka Kurier Numero 6 dokumentiere ich eine Neuentdeckung in der Biographie des jungen Kafkas im Artikel „Der junge Franz Kafka zur Sommerfrische in Gießhübl-Sauerbrunn 1897“, die erste Reise von Franz Kafka ohne Begleitung seiner Eltern. Auf dieser Reise verbringt der vierzehnjährige Franz Kafka einige Tage mit seinen Onkeln Siegfried und Joseph Loewy im Kurort Gießhübl-Sauerbrunn (heute Kyselka) in der Nähe von Karlsbad. Diesen Artikel ergänze ich hier um die Bedeutung dieses Aufenthalts für sein späteres literarisches Schaffen.

Das Zusammentreffen des Kongo-Abenteurers Joseph Loewy mit seinem jungen Neffen hat sichtbare Spuren in Kafkas Werk hinterlassen. Es gibt nur eine namentliche und ganz konkrete Erwähnung des Kongos in einem kurzen Fragment, das folgendermaßen beginnt: 

„Es war kein heiteres Leben, das ich damals beim Bahnbau am mittleren Kongo führte. Ich saß in meiner Holzhütte auf der überdeckten Veranda. Anstatt einer Längswand war ein außerordentlich feinmaschiges Moskitonetz ausgespannt, das ich von einem der Arbeiterführer, dem Häuptling eines Stammes, durch dessen Gebiet unsere Bahn gehen sollte erstanden hatte“[1]Es scheint naheliegend, dass Kafka beim Schreiben dieser Worte seinen Onkel Joseph Loewy vor Augen hatte

Darüber hinaus sind es mindestens zwei weitere größere Texte von Kafka, die einen Einfluss durch die Erzählungen Joseph Loewys vermuten lassen können, ja vielleicht sogar vermuten lassen müssen. Dies ist zum einen der schon zu Lebzeiten veröffentlichte Text „Schakale und Araber“ und die Prosaskizze „Erinnerungen an die Kaldabahn“. Bisher gab es für diesen Einfluss keine Belege, da weder ein Schriftwechsel mit Joseph Loewy überliefert ist noch Kenntnis darüber bestand, dass es zu einem persönlichen Treffen zwischen Onkel und Neffen kam. Dies ändert sich mit den vorliegenden Quellen deutlich, da wir nun davon ausgehen können, dass Joseph Loewy seinem Neffen Franz Kafka ausgiebig von seinen Abenteuern in Belgisch-Kongo erzählt hat und wir können auch vermuten, dass diese vollkommen neuen und fremden Erzählungen einen nachhaltigen Eindruck bei dem vierzehnjährigen Franz Kafka hinterlassen haben können.

Die Erzählung „Schakale und Araber“ wurde im Erzählband „Ein Landarzt. Kleine Erzählungen“ im Frühjahr 1920 im Kurt Wolff Verlag erstmalig veröffentlich. Entstanden ist sie vermutlich Anfang Februar 1917[2]. Detaillierte Quellen für den Text sind nicht gesichert überliefert.

Dass ein Prager Dichter ohne jede exotische Reiseerfahrung, ohne Lektüre von Abenteuerbüchern[3] und ohne jede Afrika- oder Asienkenntnis in einer Erzählung von einem Konflikt zwischen Schakalen und Arabern berichtet, ist nicht unbedingt naheliegend. Aber wir können uns nun sehr gut vorstellen, dass der Onkel Joseph Loewy, der seit 1891 im Kongo tätig war, eben hiervon bildreich berichtet hat. Dafür spricht zum einen die Verbreitung des Schakals, der eine breite Population in Zentralafrika und somit auch im Kongo hat und zum anderen die Tatsache, dass als „Belgier (und auch Handelsleute anderer Länder) anfingen, das Kongogebiet für sich nutzbar zu machen, stießen diese Unternehmer großen Stils auf jene kleineren Formats: auf Araber und Häuptlinge der Eingeborenenstämme“[4]. Joseph Loewy war zudem in einem Zeitraum im Kongo, der von Konflikten zwischen Arabern und Europäern, Sklavenaufständen und weiteren Konflikten geprägt war.  Der vierzehnjährige Franz Kafka wird sicherlich staunend seinem Onkel gelauscht haben, wenn dieser von wilden Tieren, Menschen mit anderen Hautfarben und gänzlich fremden Kulturen, der gefährlichen Arbeit an der Kongobahn, den Araberaufständen und vielem mehr erzählt hat.

Im Manuskript „Schakale und Araber“ lautet der erste Satz „Wir lagerten in der Oase Gemalja“[5] und die Ortsbezeichnung Gemalja wird von Kafka gestrichen und erscheint auch in den späteren Druckfassungen nicht mehr. Malte Kleinwort deutet in seiner Studie „Kafka in Babels Ruinen“[6] als biblisches Motiv:

„Wohin führt uns aber jene gestrichene Spur? Die Spur Gemalja? Wer oder was ist Gemalja? Im gestrichenen „Gemalja“ verbirgt sich eine indirekte Anspielung auf Babel, und zwar nicht auf das Babel aus der Zeit des Turmbaus, sondern das Babel aus der Zeit, in der Jesaja seine Verwüstung prophezeite (vgl. Jes 13,19-22), oder das Babel der Gefangenschaft (vgl. bspw. Jer 27).“

Mit dem neuen Wissen läßt sich eine neue Sicht auf diese Oase Gemalja wagen. In seinen Berichten könnte Joseph Loewy vom Ort Gemena, heute im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo gelegen, berichtet haben. „Gem“ bedeutet im Suaheli Edelstein und lautmalerisch ließen sich weitere Möglichkeiten zum Beispiel im Arabischen denken. Beides Sprachen, die Joseph Loewy im Kongo zu hören bekam. Vielleicht erinnerte sich der Autor Franz Kafka nicht mehr an den korrekten Ortsnamen, so dass er ihn strich, denn bekanntermaßen sind im gesamten Werk von Kafka konkrete und reale Ortsnamen wie Beispielsweise in „Der Verschollene“ oder „Beschreibung eines Kampfes“ nur selten zu finden. Ein möglicher Bezug zu undokumentierten Berichten von Joseph Loewy ist heute natürlich reine Spekulation, aber eine Spekulation, die anhand der neuen Quellenlage erlaubt sein muss.

Der zweite Text ist die „Erinnerungen an die Kaldabahn“, eine Prosaskizze im Tagebuch, die vermutlich ab dem 15. August 1914 entstanden ist. 

Die grundsätzlichen Einflüsse von Joseph und auch Alfred Loewy in dieser Erzählung hat Anthony Northey bereits herausgestellt: „Der Text, in dem der Einfluß beider Loewys unverkennbar ist, ist wohl das Fragment Erinnerung an die Kaldabahn“ und muss an dieser Stelle nicht im Detail wiederholt werden. Auch Peter-André Alt hat in seiner Biographie „Franz Kafka. Der ewige Sohn“ schon darauf hingewiesen, dass sich die Abenteuer von Joseph Loewy hier widerspiegeln. [7]

Nun bieten sich mit der aufgefundenen Quelle neue Ansichten auf den Einfluss von Joseph Loewy durch den gemeinsamen Kuraufenthalt im Sommer 1897.

Allgemein wird heute davon ausgegangen, dass Franz Kafka aus den Erzählungen der Brüder Joseph und Alfred Loewy hier Motive vermischte und die Kongo-Bahn nach Russland verlegte. Möglicherweise aber erinnerte sich Franz Kafka auch an die Lokalbahn Wickwitz – Gießhübl-Sauerbrunn, die 1894 von Heinrich Mattoni errichtet und am 1. Februar 1895 eröffnet wurde. Diese knapp neun Kilometer lange Normalspureisenbahn führte von Wickwitz (heute Vojkovice nad Ohri) nach Gießhübl-Sauerbrunn (heute Kyselka). Wie in Kafkas Erzählung die kleine Bahn, die „ursprünglich vielleicht aus irgendwelchen wirtschaftlichen Absichten angelegt worden“[8] war, so wurde auch die Bahn in Gießhübl-Sauerbrunn zunächst für wirtschaftliche Zwecke, nämlich dem Transport des Mineralwassers geschaffen.

Eine weitere Ähnlichkeit gibt es in den fünf Dörfern, die dem Ich-Erzähler als Unterkunft oder Station erreichbar sind: „Von den fünf Dörfern, die für mich in Betracht kamen, war jedes einige Stunden sowohl von der Station, als auch von den anderen Dörfern entfernt“.[9]

Diese spiegeln sich in der oben genannten Lokalbahn der Firma Mattoni in deren fünf Stationen (Wickwitz, Welchau, Rodisfort, Gießhübl-Sauerbrunn und Mattoni) wider.

Auch weitere Texte von Franz Kafka lassen sich heute anders einordnen. Der oben erwähnte Poesiealbumeintrag erhält vor dem Hintergrund des Sommerurlaubs einen neuen Aspekt, denn der junge Franz Kafka wird das Kommen und Gehen täglich im Kurbetrieb erlebt haben. Sowohl die Tagesgäste als auch die Übernachtungsgäste kamen und gingen und schließlich war es auch ein Wiedersehen mit und ein Trennen von seinen beiden Onkeln, die er in vermutlich relativ kurzer Zeit durchlebte.

Ebenso ein Text wie „Der Geier“ könnte in dieser Jugendzeit seinen Ursprung haben. Vielleicht hat Joseph Loewy in seinen afrikanischen Berichten Erzählungen, Erfahrungen oder Beobachtungen von Geiern eingeflochten. Es lässt sich die Frage, wie ein Dichter aus der Stadt auf die Idee der Geiergeschichte kommt, ansonsten auch nur schwer beantworten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Kafkabild mit dieser Neuentdeckung um einige Nuancen im Detail reicher wird. Bisher ging die Fachliteratur davon aus, dass es in den genannten Texten Kafkas insbesondere Einflüsse vom Madrider Onkel Alfred Loewy gab, da Alfred Loewy als Bahndirektor Karriere machte und internationale Erfahrung in Paris und Madrid sammelte. Von Alfred Loewy sind auch Briefe an Franz Kafka überliefert, die vermuten lassen, dass es hier noch weitere bisher unentdeckte Korrespondenz gab. Jedoch vergessen diese Vermutungen zum einen, dass Alfred Loewy vom Büroangestellten zum Direktor aufstieg, ohne seinen Schreibtisch jemals zu verlassen und zum anderen, dass Alfred Loewy den europäischen Boden nie verlassen hat. Außerdem ging man bis heute davon aus, dass „kein einziger Besuch Josephs in Prag dokumentiert“[10] sei. Der Fund dieser Kurliste ändert hieran nicht zwingend etwas, jedoch erscheint es nun eher unwahrscheinlich, dass ein Familienmitglied im Zusammenhang mit seinem Aufenthalt in Gießhübl-Sauerbrunn nach mehreren tausend Kilometer beschwerlicher Reise, nicht seine wenige Kilometer entfernte Familie in Prag besucht hat. Außerdem liegt es nun nahe, dass es eher die Erzählungen eines Joseph Loewy waren, die die Quelle für Franz Kafkas oben genannte spätere Erzählungen waren als die Berichte eines Alfred Loewys.


[1] OX8 2, S. 139

[2] Engel/Auerochs: Kafka Handbuch, S. 218 und Drucke zu Lebzeiten Apparatband, S. 332

[3] Es ist zu vermuten, dass der jugendliche Franz Kafka keine Abenteuerliteratur las, da dies durch keine Briefe oder Tagebuchaufzeichnungen dokumentiert wäre und auch Borns Verzeichnis „Kafkas Bibliothek“ für keine Abenteuerbücher auf.

[4] Northey, Anthony: KAFKAs Mischpoche, S. 19 f.

[5] Oxforder Oktavhefte 2, S. 67

[6] Die Studie kann online von der Ruhr-Universität Bochum unter https://www.dekphil.ruhr-uni-bochum.de/dekphil/mam/kleinwort-malte-kafka_in_babels_ruinen.pdf abgerufen werden.

[7] Peter-André Alt, Franz Kafka. Der ewige Sohn (München 2018), S. 28

[8] Kafka, Franz: Tagebücher (Frankfurt/Main 2002), S. 549

[9] Kafka, Franz: Tagebücher (Frankfurt/Main 2002), S. 551

[10] Reiner Stach, Kafka. Die frühen Jahre (Frankfurt/Main 2014), S. 49 f.