In seinem kurzen, nur 161 Wörter umfassenden, Text „Die Vorüberlaufenden“ aus den „Betrachtungen„, reiht sich das Wort „vielleicht“ achtmal aneinander. Dieser frühe Text, erstmalig 1908 im Hyperion gedruckt, ist schon typisch für Kafka. Es fängt unspektakulär an, alles scheint normal zu sein, doch dann ändert sich die Wirklichkeit abrupt, wenn auch hier nur anhand von acht unterschiedlichen Hypothesen. Gleichzeitig ist aber klar, bricht eine dieser Hypothesen in die Wirklichkeit ein, so ist nichts mehr wie es war, die Wirklichkeit ist gestört, den nächtlichen Spaziergänger erfasst daher eine ängstliche Unruhe.
Die Vorüberlaufenden
Wenn man in der Nacht durch eine Gasse spazieren geht, und ein Mann, von weitem schon sichtbar – denn die Gasse vor uns steigt an und es ist Vollmond – uns entgegenläuft, so werden wir ihn nicht anpacken, selbst wenn er schwach und zerlumpt ist, selbst wenn jemand hinter ihm läuft und schreit, sondern wir werden ihn weiter laufen lassen.
Denn es ist Nacht, und wir können nicht dafür, daß die Gasse im Vollmond vor uns aufsteigt, und überdies, vielleicht haben diese zwei die Hetze zu ihrer Unterhaltung veranstaltet, vielleicht verfolgen beide einen dritten, vielleicht wird der erste unschuldig verfolgt, vielleicht will der zweite morden, und wir würden Mitschuldige des Mordes, vielleicht wissen die zwei nichts voneinander, und es läuft nur jeder auf eigene Verantwortung in sein Bett, vielleicht sind es Nachtwandler, vielleicht hat der erste Waffen.
Und endlich, dürfen wir nicht müde sein, haben wir nicht soviel Wein getrunken? Wir sind froh, daß wir auch den zweiten nicht mehr sehen.
(Franz Kafka, Betrachtung)