Archives: Dezember 31, 2023

Eltern sind wie Wucherer

Am 12. November 1914 schreibt Kafka in sein Tagebuch:

„Die Eltern die Dankbarkeit von ihren Kindern erwarten (es gibt sogar solche, die sie fordern) sind wie Wucherer, sie riskieren gern das Kapital, wenn sie nur die Zinsen bekommen.“

(Franz Kafka, Tagebücher, Frankfurt/Main 2002, S. 698)

Für sich alleine betrachtet ein schöner Aphorismus. Im Kontext von Kafkas Biographie ahnt man, da steckt mehr dahinter. Aber es ist nur eine Ahnung, denn weder die Briefe noch die Tagebucheinträge oder Werke um diesen Zeitraum herum lassen eindeutig erkennen, das hier mehr dahinter stecke als für sich allein betrachtet ein Aphorismus.

Themen, die Kafka in dieser Zeit besonders interessieren und sich auch im Tagebuch widerspiegeln, sind einerseits der Verlauf des Ersten Weltkrieges. Die gesamtgesellschaftliche Euphorie vom Beginn des Krieges ist längst verflogen und die ersten Verwundeten kehren nach Hause zurück. So auch Kafkas Schwager Josef Pollak, Ehemann seiner Schwester Valli, der zu Beginn des Novembers 1914 mit einer Schussverletzung für drei Wochen Heimaturlaub in Prag weilt und von den Schrecken des Krieges berichtet. Andererseits belastet ihn die Asbestfabrik immer mehr und auch das Wissen, dass Karl Hermann, Ehemann von Kafkas Schwester Elli, offensichtlich der Fabrik Geld entzieht. Die Zeit wird zudem überschattet von einer familiären Tragödie, denn Carl Bauer, der Vater von Felice Bauer stirbt am 5. November 1914. Hier ließe sich einiges ableiten, doch nichts führt zwingend zu der obigen Notiz.

Für sich allein betrachtet aber bleibt es ein schöner Aphorismus.


Nachdenken für Herrenreiter

Um den 10. November 1914 erschein der kurze Prosatext „Zum Nachdenken für Herrenreiter“ in „Das bunte Buch“ im Kurt Wolff Verlag Leipzig. „Das bunte Buch“ war der Jahresalmanach des Kurt Wolff Verlages, der in dieser Ausgabe Leseproben u.a. von Robert Walser, Else Lasker-Schüler, Max Brod, Georg Trakl, Georg Heym und vielen anderen enthielt. Alles Autoren, deren Texte in 1913 und 1914 im Kurt Wolff Verlag veröffentlicht wurden. Von Franz Kafka war 1913 seine erste Buchveröffentlichung „Betrachtung“ erschienen, die diesen Text über den unglücklichen Gewinner, den Neid der Neider, die Einsamkeit des Sieges beschreibt.

Zum Nachdenken für Herrenreiter

Nichts, wenn man es überlegt, kann dazu verlocken, in einem Wettrennen der erste sein zu wollen.
Der Ruhm, als der beste Reiter eines Landes anerkannt zu werden, freut bei Losgehn des Orchesters zu stark, als daß am Morgen danach die Reue verhindern ließe.
Der Neid der Gegner, listiger, ziemlich einflußreicher Leute, muß uns in dem engen Spalier schmerzen, das wir nun durchreiten nach jener Ebene, die bald vor uns leer war bis auf einige überrundete Reiter, die klein gegen den Rand des Horizonts anritten.
Viele unserer Freunde eilen den Gewinn zu beheben und nur über die Schultern weg schreien sie von den entlegenen Schaltern ihr Hurra zu uns; die Freunde aber haben gar nicht auf unser Pferd gesetzt, da sie fürchteten, käme es zum Verluste, müßten sie uns böse sein, nun aber, da unser Pferd das erste war und sie nichts gewonnen haben, drehn sie sich um, wenn wir vorüberkommen und schauen lieber die Tribünen entlang.
Die Konkurrenten rückwärts, fest im Sattel, suchen das Unglück zu überblicken, das sie getroffen hat, und das Unrecht, das ihnen irgendwie zugefügt wird; sie nehmen ein frisches Aussehen an, als müsse ein neues Rennen anfangen und ein ernsthaftes nach diesem Kinderspiel.
Vielen Damen scheint der Sieger lächerlich, weil er sich aufbläht und doch nicht weiß, was anzufangen mit dem ewigen Händeschütteln, Salutieren, Sich-Niederbeugen und In-die-Ferne-Grüßen, während die Besiegten den Mund geschlossen haben und die Hälse ihrer meist wiehernden Pferde leichthin klopfen.
Endlich fängt es gar aus dem trüb gewordenen Himmel zu regnen an.

Entstanden ist dieses Prosastück vermutlich zwischen 1907 und 1910 und wurde vielleicht auch durch die Reise nach Paris mit Max Brod beeinflusst, als sie in Paris die Pferderennbahn besuchten. Gerhard Oberlin deutet in „Kafka verstehen. Text und Deutung“ (Oberlin, Würzburg 2021, S. 82 f.) an, dass Herrenreiter als auch „Herrenmensch“ oder „Herrenrasse“ gelesen werden könne, die Gewinner möglicherweise die erfolgreichen Juden repräsentiere und der Neid der Neider als Antisemitismus gelesen werden könne. Bestreiten will ich diesen möglichen Ansatz hier nicht, doch denke ich, dass Kafka zum einen mit dem Pferdesport vertraut war und zum anderen den Begriff des „Herrenreiters“ durchaus in der damals und auch heute noch im Pferdesport üblichen Verwendung benutzte. Der Große Brockhaus in der 15. Auflage von 1931 kennt das Herrenreiten, ein Pferderennen, bei dem nur Herrenreiter (Amateurreiter, die keinerlei Vergütung für ihre Ritte annehmen) zugelassen werden.“
Kafkas Parabel verdeutlich zum einen, dass die Sieger oft allein in ihrem Siege sind, dass – wie wir es heute aus auch der Popkulur kennen – Prominenz und Erfolg viele Schattenseite hat, dass all dies aber auch zeitlich begrenzt hat, denn „endlich fängt es gar aus dem trüb gewordenen Himmel zu regnen“ an und wir wenden uns anderen Dingen zu.

Bildquelle: WDR/filmore-bergerarchiv


Kafka und die Schlacht bei Custozza

Am 10. November 1894, übrigens einem Samstag, besucht der elfjährige Franz Kafka in seinem zweiten Gymnasialjahr während eines Schulausflugs mit seinem Klassenlehrer die in Prag gastierende „Plastische Darstellung der Schlacht bei Custozza, die vom Prager Tagblatt am 8. Oktober 1894, einen Tag nach der Ausstellungseröffnung euphorisch gefeiert wird.

Der gesamte Artikel in der Rubrik „Vom Tage“ nimmt – für diese Rubrik im Prager Tagblatt eher ungewöhnlich – die Hälfte der Druckseite ein und greift neben der Darstellung der Ausstellung die Gelegenheit auf, in patriotischen Stolz den Lesern die Bedeutung dieser Schlacht erneut in Erinnerung zu rufen – so lesen wir u.a.:

„Die Darstellung dieser ruhmreichenSchlacht nimmt einen Raum von 84 Quadratmetern ein, ist plastisch meisterhaft durchgeführt und bis ins kleinste Detail naturgetreu […] Da die Darstellung auf dem Boden ausgebreitet ist, betrachtet der Zuschauer das imposante Schlachtbild aus der Vogelperspektive. An der denkwürdigen Schlacht nahm auch das Prager Hausregiment Nr. 28, das im linken Flügel der Brigade Birzt stand, rühmlichen Antheil. […] Der Besuch der Ausstellung kann jedermann wärmstens empfohlen werden, zumal für eine Verständlichmachung der Riesendarstellung durch eine um wenige Kreuzer erhältliche Brochure mit dem Plane des Schlachtfelds gesorgt ist.“

Zur Schlacht bei Custozza kam es im Dritten Italienischen Unabhängigkeitskrieg im Jahr 1866. Das Königreich Italien war erst wenige Jahre zuvor gegründet worden und die Italiener wollten in diesem Krieg u.a. die Region Venetien erobern. Dies gelang ihnen zwar nicht in diesem Kriege, da sie von den Österreichern besiegt wurden, jedoch wurde Italien die Region um Venedig nach der Schlacht bei Custozza durch Geheimabkommen zugesprochen. Für den österreichischen Nationalstolz war der öfffentlichkeitswirksame siegreiche Ausgang dieser Schlacht wichtiger als der Verlust der Region Venetien und insbesondere eine Wiederholung des Sieges der ersten Schlacht bei Custozza durch den General Radetzky im Jahr 1848.

Der Besuch dieser Ausstellung, die für etwa einen Monat in Prag täglich von 9 bis 17 Uhr und gegen einen Eintritt von 20 Kreuzern, zu sehen war, war für alle Schüler des Altstädter Gymnasiums an diesem Tage verbindlich und die Schulchronik schreibt zu diesem Ausflug:

„Behufs der Erziehung eines thunlichst nachhaltigen Erfolges dieser Beschauung waren die Schüler durch die P.T. Herren Fachlehrer der Geschichte auf den wesentlichen Inhalt und die hohe Bedeutung des bezüglichen Ereignisses entsprechend aufmerksam gemacht.“

Wir können uns durchaus vorstellen, dass die plastische Darstellung, also schlicht und ergreifend die Modelllandschaft mit der naturgetreuen Darstellung und den hunderten oder tausenden von Zinnsoldaten auf die noch verspielten Jungen im einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben und vielleicht waren sie auch ein bißchen neidisch auf dieses imposante „Spielfeld“, das sie sich gerne in ihr eigenes Kinderzimmer gewünscht hätten – auch ein Franz Kafka ist hiervon nicht ausgenommen.

Quellen:

  • Prager Tagblatt vom 8. Oktober 1894
  • Prager Abendblatt vom 7. Oktober1894
  • Hartmut Binder: Franz Kafka. Ein Leben in Bildern, Prag 2024

Der Einfluß von Joseph Loewy auf Kafkas Werk

Im aktuellen Kafka Kurier Numero 6 dokumentiere ich eine Neuentdeckung in der Biographie des jungen Kafkas im Artikel „Der junge Franz Kafka zur Sommerfrische in Gießhübl-Sauerbrunn 1897“, die erste Reise von Franz Kafka ohne Begleitung seiner Eltern. Auf dieser Reise verbringt der vierzehnjährige Franz Kafka einige Tage mit seinen Onkeln Siegfried und Joseph Loewy im Kurort Gießhübl-Sauerbrunn (heute Kyselka) in der Nähe von Karlsbad. Diesen Artikel ergänze ich hier um die Bedeutung dieses Aufenthalts für sein späteres literarisches Schaffen.

Das Zusammentreffen des Kongo-Abenteurers Joseph Loewy mit seinem jungen Neffen hat sichtbare Spuren in Kafkas Werk hinterlassen. Es gibt nur eine namentliche und ganz konkrete Erwähnung des Kongos in einem kurzen Fragment, das folgendermaßen beginnt: 

„Es war kein heiteres Leben, das ich damals beim Bahnbau am mittleren Kongo führte. Ich saß in meiner Holzhütte auf der überdeckten Veranda. Anstatt einer Längswand war ein außerordentlich feinmaschiges Moskitonetz ausgespannt, das ich von einem der Arbeiterführer, dem Häuptling eines Stammes, durch dessen Gebiet unsere Bahn gehen sollte erstanden hatte“[1]Es scheint naheliegend, dass Kafka beim Schreiben dieser Worte seinen Onkel Joseph Loewy vor Augen hatte

Darüber hinaus sind es mindestens zwei weitere größere Texte von Kafka, die einen Einfluss durch die Erzählungen Joseph Loewys vermuten lassen können, ja vielleicht sogar vermuten lassen müssen. Dies ist zum einen der schon zu Lebzeiten veröffentlichte Text „Schakale und Araber“ und die Prosaskizze „Erinnerungen an die Kaldabahn“. Bisher gab es für diesen Einfluss keine Belege, da weder ein Schriftwechsel mit Joseph Loewy überliefert ist noch Kenntnis darüber bestand, dass es zu einem persönlichen Treffen zwischen Onkel und Neffen kam. Dies ändert sich mit den vorliegenden Quellen deutlich, da wir nun davon ausgehen können, dass Joseph Loewy seinem Neffen Franz Kafka ausgiebig von seinen Abenteuern in Belgisch-Kongo erzählt hat und wir können auch vermuten, dass diese vollkommen neuen und fremden Erzählungen einen nachhaltigen Eindruck bei dem vierzehnjährigen Franz Kafka hinterlassen haben können.

Die Erzählung „Schakale und Araber“ wurde im Erzählband „Ein Landarzt. Kleine Erzählungen“ im Frühjahr 1920 im Kurt Wolff Verlag erstmalig veröffentlich. Entstanden ist sie vermutlich Anfang Februar 1917[2]. Detaillierte Quellen für den Text sind nicht gesichert überliefert.

Dass ein Prager Dichter ohne jede exotische Reiseerfahrung, ohne Lektüre von Abenteuerbüchern[3] und ohne jede Afrika- oder Asienkenntnis in einer Erzählung von einem Konflikt zwischen Schakalen und Arabern berichtet, ist nicht unbedingt naheliegend. Aber wir können uns nun sehr gut vorstellen, dass der Onkel Joseph Loewy, der seit 1891 im Kongo tätig war, eben hiervon bildreich berichtet hat. Dafür spricht zum einen die Verbreitung des Schakals, der eine breite Population in Zentralafrika und somit auch im Kongo hat und zum anderen die Tatsache, dass als „Belgier (und auch Handelsleute anderer Länder) anfingen, das Kongogebiet für sich nutzbar zu machen, stießen diese Unternehmer großen Stils auf jene kleineren Formats: auf Araber und Häuptlinge der Eingeborenenstämme“[4]. Joseph Loewy war zudem in einem Zeitraum im Kongo, der von Konflikten zwischen Arabern und Europäern, Sklavenaufständen und weiteren Konflikten geprägt war.  Der vierzehnjährige Franz Kafka wird sicherlich staunend seinem Onkel gelauscht haben, wenn dieser von wilden Tieren, Menschen mit anderen Hautfarben und gänzlich fremden Kulturen, der gefährlichen Arbeit an der Kongobahn, den Araberaufständen und vielem mehr erzählt hat.

Im Manuskript „Schakale und Araber“ lautet der erste Satz „Wir lagerten in der Oase Gemalja“[5] und die Ortsbezeichnung Gemalja wird von Kafka gestrichen und erscheint auch in den späteren Druckfassungen nicht mehr. Malte Kleinwort deutet in seiner Studie „Kafka in Babels Ruinen“[6] als biblisches Motiv:

„Wohin führt uns aber jene gestrichene Spur? Die Spur Gemalja? Wer oder was ist Gemalja? Im gestrichenen „Gemalja“ verbirgt sich eine indirekte Anspielung auf Babel, und zwar nicht auf das Babel aus der Zeit des Turmbaus, sondern das Babel aus der Zeit, in der Jesaja seine Verwüstung prophezeite (vgl. Jes 13,19-22), oder das Babel der Gefangenschaft (vgl. bspw. Jer 27).“

Mit dem neuen Wissen läßt sich eine neue Sicht auf diese Oase Gemalja wagen. In seinen Berichten könnte Joseph Loewy vom Ort Gemena, heute im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo gelegen, berichtet haben. „Gem“ bedeutet im Suaheli Edelstein und lautmalerisch ließen sich weitere Möglichkeiten zum Beispiel im Arabischen denken. Beides Sprachen, die Joseph Loewy im Kongo zu hören bekam. Vielleicht erinnerte sich der Autor Franz Kafka nicht mehr an den korrekten Ortsnamen, so dass er ihn strich, denn bekanntermaßen sind im gesamten Werk von Kafka konkrete und reale Ortsnamen wie Beispielsweise in „Der Verschollene“ oder „Beschreibung eines Kampfes“ nur selten zu finden. Ein möglicher Bezug zu undokumentierten Berichten von Joseph Loewy ist heute natürlich reine Spekulation, aber eine Spekulation, die anhand der neuen Quellenlage erlaubt sein muss.

Der zweite Text ist die „Erinnerungen an die Kaldabahn“, eine Prosaskizze im Tagebuch, die vermutlich ab dem 15. August 1914 entstanden ist. 

Die grundsätzlichen Einflüsse von Joseph und auch Alfred Loewy in dieser Erzählung hat Anthony Northey bereits herausgestellt: „Der Text, in dem der Einfluß beider Loewys unverkennbar ist, ist wohl das Fragment Erinnerung an die Kaldabahn“ und muss an dieser Stelle nicht im Detail wiederholt werden. Auch Peter-André Alt hat in seiner Biographie „Franz Kafka. Der ewige Sohn“ schon darauf hingewiesen, dass sich die Abenteuer von Joseph Loewy hier widerspiegeln. [7]

Nun bieten sich mit der aufgefundenen Quelle neue Ansichten auf den Einfluss von Joseph Loewy durch den gemeinsamen Kuraufenthalt im Sommer 1897.

Allgemein wird heute davon ausgegangen, dass Franz Kafka aus den Erzählungen der Brüder Joseph und Alfred Loewy hier Motive vermischte und die Kongo-Bahn nach Russland verlegte. Möglicherweise aber erinnerte sich Franz Kafka auch an die Lokalbahn Wickwitz – Gießhübl-Sauerbrunn, die 1894 von Heinrich Mattoni errichtet und am 1. Februar 1895 eröffnet wurde. Diese knapp neun Kilometer lange Normalspureisenbahn führte von Wickwitz (heute Vojkovice nad Ohri) nach Gießhübl-Sauerbrunn (heute Kyselka). Wie in Kafkas Erzählung die kleine Bahn, die „ursprünglich vielleicht aus irgendwelchen wirtschaftlichen Absichten angelegt worden“[8] war, so wurde auch die Bahn in Gießhübl-Sauerbrunn zunächst für wirtschaftliche Zwecke, nämlich dem Transport des Mineralwassers geschaffen.

Eine weitere Ähnlichkeit gibt es in den fünf Dörfern, die dem Ich-Erzähler als Unterkunft oder Station erreichbar sind: „Von den fünf Dörfern, die für mich in Betracht kamen, war jedes einige Stunden sowohl von der Station, als auch von den anderen Dörfern entfernt“.[9]

Diese spiegeln sich in der oben genannten Lokalbahn der Firma Mattoni in deren fünf Stationen (Wickwitz, Welchau, Rodisfort, Gießhübl-Sauerbrunn und Mattoni) wider.

Auch weitere Texte von Franz Kafka lassen sich heute anders einordnen. Der oben erwähnte Poesiealbumeintrag erhält vor dem Hintergrund des Sommerurlaubs einen neuen Aspekt, denn der junge Franz Kafka wird das Kommen und Gehen täglich im Kurbetrieb erlebt haben. Sowohl die Tagesgäste als auch die Übernachtungsgäste kamen und gingen und schließlich war es auch ein Wiedersehen mit und ein Trennen von seinen beiden Onkeln, die er in vermutlich relativ kurzer Zeit durchlebte.

Ebenso ein Text wie „Der Geier“ könnte in dieser Jugendzeit seinen Ursprung haben. Vielleicht hat Joseph Loewy in seinen afrikanischen Berichten Erzählungen, Erfahrungen oder Beobachtungen von Geiern eingeflochten. Es lässt sich die Frage, wie ein Dichter aus der Stadt auf die Idee der Geiergeschichte kommt, ansonsten auch nur schwer beantworten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Kafkabild mit dieser Neuentdeckung um einige Nuancen im Detail reicher wird. Bisher ging die Fachliteratur davon aus, dass es in den genannten Texten Kafkas insbesondere Einflüsse vom Madrider Onkel Alfred Loewy gab, da Alfred Loewy als Bahndirektor Karriere machte und internationale Erfahrung in Paris und Madrid sammelte. Von Alfred Loewy sind auch Briefe an Franz Kafka überliefert, die vermuten lassen, dass es hier noch weitere bisher unentdeckte Korrespondenz gab. Jedoch vergessen diese Vermutungen zum einen, dass Alfred Loewy vom Büroangestellten zum Direktor aufstieg, ohne seinen Schreibtisch jemals zu verlassen und zum anderen, dass Alfred Loewy den europäischen Boden nie verlassen hat. Außerdem ging man bis heute davon aus, dass „kein einziger Besuch Josephs in Prag dokumentiert“[10] sei. Der Fund dieser Kurliste ändert hieran nicht zwingend etwas, jedoch erscheint es nun eher unwahrscheinlich, dass ein Familienmitglied im Zusammenhang mit seinem Aufenthalt in Gießhübl-Sauerbrunn nach mehreren tausend Kilometer beschwerlicher Reise, nicht seine wenige Kilometer entfernte Familie in Prag besucht hat. Außerdem liegt es nun nahe, dass es eher die Erzählungen eines Joseph Loewy waren, die die Quelle für Franz Kafkas oben genannte spätere Erzählungen waren als die Berichte eines Alfred Loewys.


[1] OX8 2, S. 139

[2] Engel/Auerochs: Kafka Handbuch, S. 218 und Drucke zu Lebzeiten Apparatband, S. 332

[3] Es ist zu vermuten, dass der jugendliche Franz Kafka keine Abenteuerliteratur las, da dies durch keine Briefe oder Tagebuchaufzeichnungen dokumentiert wäre und auch Borns Verzeichnis „Kafkas Bibliothek“ für keine Abenteuerbücher auf.

[4] Northey, Anthony: KAFKAs Mischpoche, S. 19 f.

[5] Oxforder Oktavhefte 2, S. 67

[6] Die Studie kann online von der Ruhr-Universität Bochum unter https://www.dekphil.ruhr-uni-bochum.de/dekphil/mam/kleinwort-malte-kafka_in_babels_ruinen.pdf abgerufen werden.

[7] Peter-André Alt, Franz Kafka. Der ewige Sohn (München 2018), S. 28

[8] Kafka, Franz: Tagebücher (Frankfurt/Main 2002), S. 549

[9] Kafka, Franz: Tagebücher (Frankfurt/Main 2002), S. 551

[10] Reiner Stach, Kafka. Die frühen Jahre (Frankfurt/Main 2014), S. 49 f.


Kafka Kurier Numero 6

Laut Internetseite des Klostermann Verlags erscheint der Kafka Kurier Numero 6 im Dezember 2024. Auf den Verlagswebseite findet sich schon eine Leseprobe des neuen Kafka-Kuriers und die Verlagsankündigung macht neugierig:

„Mit Beiträgen u.a. von Hartmut Binder, Jeremy Adler, Guido Massino, Peter Engel, Reinhard Pabst und Eckhard Wallmann. Die sechste, reich illustrierte Ausgabe des Kafka-Kuriers enthält neue Funde zu Kafkas Aufenthalten in Hamburg, Gleschendorf, Marielyst und Gießhübl-Sauerbrunn, klärt über das allabendliche Kartenspiel in Kafkas Familie auf, berichtet von der Schwimmleidenschaft des Dichters, entdeckt Kafka als Mitglied einer Baugenossenschaft und bringt Materialien zum Tod von Kafkas Bruder Heinrich bei. Anhand von Dokumenten wird eine Spur zur Überlieferung von Kafkas Bibliothek eröffnet sowie eine von der Forschung bisher unbeachtet gebliebene Erinnerung Nico Rosts an seine Begegnung mit Kafka 1923 in Berlin mitgeteilt.“

(Ankündigung des Klostermann Verlags laut Website)


Ein pandektenfreies Leben

Franz Kafka war ein fleißiger Briefeschreiber, insgesamt wissen wir von über 1.700 Briefen, die in der hervorragenden kommentierten Ausgabe im Fischer Verlag dokumentiert sind.

Allerdings war Franz Kafka auch ein ungeduldiger Briefeempfänger, der seinen Adressaten auch gerne mal Vorwürfe machte, dass sie ihm doch schreiben sollen. So schrieb er am 5. November 1902 – vielleicht ironisch – an seinen Freund Paul Kisch, der für ein Semester in München Germanistik studierte:

„Wenn einer verschüttet ist zwischen Pandekten und Institutionen, dann kann es einmal geschehn, daß es mit der Antwort auf eine Karte zu spät wird. Darum soll man versprochene Briefen ihm nicht vorenthalten wenn man ein pandektenfreies Leben hat.
So meint es der 
Franz“

Franz Kafka hatte sich zum Wintersemester 1902 erneut für Jura eingeschrieben und belegte „Pandekten Erbrecht“ und „Pandekten Obligationsrecht“, das pandektenfreie Leben führte also Paul Kisch.

Heute sind Briefe leider etwas aus der Mode gekommen. Vielleicht kennt der ein oder andere das Phänomen, wie sehr man sich doch über Postkarten aus dem Urlaub freut, aber selber gar keine mehr schreibt. Am 29. Mai 1920 schrieb Kafka in einer Nachschrift an Milena:

„Was meinen Sie? kann ich noch bis Sonntag einen Brief bekommen? Möglich wäre es schon. Aber es ist unsinnig diese List an Briefen. Genügt nicht ein einziger, genügt nicht ein Wissen? Gewiß genügt es, aber trotzdem lehnt man sich weit zurück und trinkt die Briefe und weiß nichts als daß man nicht aufhören will zu trinken.“

Wie Kafka ungeduldig auf die Briefe seiner Verlobten Felice Bauer wartet, habe ich bereits hier beschrieben.

Quellen:

  • Franz Kafka, Briefe 1900 – 1912, Frankfurt/Main 1999
  • Franz Kafka, Briefe an Milena, Frankfurt/Main 1986, 14. Auflage 2011

Kafka als größter Mißerfolg

Der deutsche Schriftsteller und Humanist Herbert Eulenberg (1876 – 1949) fragte im Jahr 1928 verschiedene Verleger nach deren größten Misserfolgen im Verlagswesen. Hierauf antwortete Kurt Wolff (1887 – 1963), erster und bedeutendster Verleger der Werke von Franz Kafka:

„Die Bücher des großen Dichters Franz Kafka waren geschäftlich der größte Mißerfolg – trotz fabelhafter Besprechungen führender deutscher Geister und trotz Ludwig Hardts Vortragskunst.“

(Jürgen Born, Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten, Frankfurt/Main 1979, S. 185)

Kurt Wolff glaubte jedoch an seinen Autor und die obige Aussage bezieht sich auf die rein monetären Aspekte. Schon am 3. November 1921 schrieb Kurt Wolff an seinen Autor Franz Kafka:

„Unser Briefaustausch ist selten und spärlich. Keiner der Autoren, mit denen wir in Verbindung stehen, tritt so selten mit Wünschen oder Fragen an uns heran wie Sie und bei keinem haben wir das Gefühl, daß ihm das äußere Schicksal der veröffentlichten Bücher so gleichgültig sei wie Ihnen. Da scheint es wohl angebracht, wenn der Verleger von Zeit zu Zeit dem Autor sagt, daß diese Teilnahmslosigkeit des Autors am Schicksal der Bücher den Verleger nicht in seinem Glauben und Vertrauen an die besondere Qualität der Publikationen beirrt. Aus aufrichtigem Herzen kommt mir die Versicherung, daß ich persönlich kaum zu zwei, dreien der Dichter, die wir vertreten und an die Öffentlichkeit bringen dürfen, innerlich ein so leidenschaftliches starkes Verhältnis habe wie zu Ihnen und Ihrem Schaffen.
Sie dürfen die äußeren Erfolge, die wir mit Ihren Büchern erzielen nicht als Maßstab der Arbeit, die wir an den vertrieb wenden, nehmen. Sie und wir wissen, daß es gemeinhin gerade die besten und wertvollsten Dinge sind, die ihr Echo nicht sofort, sondern erst später finden, und wir haben noch den Glauben an die deutschen Leserschichten, daß sie einmal die Aufnahmefähigkeit haben werden, die diese Bücher verdienen […]
Jedes Manuskript, zu dessen Übersendung an uns Sie sich entschließen können, wird willkommen sein und mit Liebe und Sorgfalt in Buchform veröffentlich werden.“

Kurt Wolff unterstützte Franz Kafka zeitlebens, auch als er am Ende seines Lebens vom Kurt Wolff Verlag in München zum Verlag Die Schmiede in Berlin wechselte, in dem Ende 1924 die Sammlung „Ein Hungerkünstler“ erschien.

Dass Kafka kein Interesse an seinen veröffentlichten Werken hat, ist übrigens ein Mythos, der sich hartnäckig hält. Neben Passagen aus Kafkas Briefen, die zeigen, das er selbst an diesem Mythos nicht ganz unbeteiligt war, gibt es aber auch ganz andere Zeugnisse, wie unter anderem der folgende Brief vom 15. Oktober 1913 zeigt:

„An den Verlag Kurt Wolf!
Wie ich höre, soll vor etwa 14 Tagen (abgesehen von den Besprechungen des Heizers in der Neuen Freien Press; die kenne ich) noch in einem anderen Wiener Blatte, ich glaube, in der Wiener Allgemeinen Zeitung“ eine Besprechung erschienen sein. Falls Sie sie kennen, bitte ich Sie, so freundlich zu sein und mir Namen, Nummer und Datum des Blattes anzugeben.
Hochachtungsvoll
Dr. Franz Kafka“

Quellen:

  • Jürgen Born, Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten, Frankfurt/Main 1979
  • Hans-Gerd Koch, Als Kafka mir entgegenkam…, Berlin 2013
  • Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999

Das Foltern ist mir äußerst wichtig

Anfang November 1920, vermutlich um den 3., schreibt Franz Kafka in einem Brief an Milena Pollak:

„Es deutet auf eine Geschmacksähnlichkeit hin, daß Du gerade diese Stelle übersetzt hast. Ja, das Foltern ist mir äußerst wichtig, ich beschäftige mich mit nichts anderem als mit Gefoltert-werden und foltern. Warum? Aus einem ähnlichen Grund wie Perkins und ähnlich unüberlegt, mechanisch und traditionsgemäß; nämlich um aus dem verdammten Mund das verdammte Wort zu erfahren.“

(Franz Kafka: Briefe 1918 – 1920, Frankfurt/Main 2013, S. 366)

Kafka nimmt hier Bezug auf eine Übersetzungsarbeit von Milena des amerikanischen Autors Upton Sinclair ins Tschechsiche, die im Sommer 1920 erschienen war.
Feldwebel Perkins ist eine Figur aus Upton Sinclairs Roman „Jimmie Higgins“, der 1919 in New York und ebenfalls 1919 in der deutschen Übersetzung bei Kiepenheuer erschien. Dieser Roman war insbesondere bei Sozialisten und Kommunisten beliebt, da der Protagonist Jimmie Higgins einen der Parteilinie stets treuen Bolschewisten verkörpert. Der Roman wurde als Fortsetzungsroman vom 22. Juli bis zum 4. November 1920 in der deutschen Übersetzung im Prager Tagblatt veröffentlicht und wir können davon ausgehen, dass Kafka zumindest Teile davon hier gelesen hat. Außerdem bewarb die kommunistische Zeitung „Die Rote Fahne“ diesen Roman im Dezember 1920 und kündigte ebenso die Veröffentlichung als Fortsetzungsroman in ihrer Zeitung an.

Wenngleich es ausreichend bekannt ist, dass sich Franz Kafka für die zeitgenössische Literatur und auch für soziale Fragen interessierte, so ist dieses Interesse an einem Roman, der in ganz besonderer Weise von Sozialisten und Kommunisten in Beschlag genommen wurde, durchaus auffällig in Kafkas Lektüre, da wir ansonsten von keinen weiteren derart sozialkritischen Autoren in Kafkas Bibliothek wissen. Letzten Endes wissen wir aber auch nicht, ob Kafka tatsächlich den ganzen Roman kannte oder ob er im wesentlichen nur die Übersetzung von Milena kannte.

Upton Sinclair (1878 – 1968) war zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl in den USA als auch im deutschsprachigen Raum ein populärer und überaus erfolgreicher Autor, der in allen seinen Werken eine deutliche Sozialkritik ausübte. Bertolt Brecht war zum Beispiel einer der deutschen Autoren, die früh Sinclair lasen und dessen Werk auch deutliche Einflüsse von Sinclair erkennen lässt.

Quellen:
– Franz Kafka, Briefe 1918 – 1920, Frankfurt/Main 2013
– Jürgen Born, Kafkas Bibliothek, Düsseldorf 2011
– Klaus Völker, Brecht Kommentar zum dramatischen Werk, München 1983


Kafkas Schulweg

Am 16. September 1889 wurde Franz Kafka eingeschult und hierzu habe ich vor einigen Wochen schon viel zu kurz „berichtet“. Herr Reinhardt Pabst hat mich zu recht darauf aufmerksam gemacht, dass es hierzu einiges zu erzählen gäbe.

In einem vielzitierten Brief vom 21.Juni 1920 an Milena Pollak schildert Kafka seinen Schulweg zur Volksschule folgendermaßen:

„Unsere Köchin, eine kleine trockene magere spitznasige , wangenhohl gelblich, aber fest, energisch und überlegen führte mich jeden Morgen in die Schule. Wir wohnten in dem Haus, welches den kleinen Ring vom großen Ring trennt. Da gieng es also zuerst über den Ring, dann in die Teingasse, dann durch eine Art Torwölbung in die Fleischmarktgasse zum Fleischmarkt hinunter. Und nun wiederholte sich jeden Morgen das Gleiche wohl ein Jahr lang. Beim Aus-dem-Haus-treten sagte die Köchin, sie werden dem Lehrer erzählen, wie unartig ich zuhause gewesen bin. Nun war ich ja wahrscheinlich nicht sehr unartig, aber doch trotzig, nichtsnutzig, traurig, böse und es hätte sich daraus wahrscheinlich immer etwas Hübsches für den Lehrer zusammenstellen lassen. Das wußte ich und nahm also die Drohung der Köchin nicht leicht. Doch glaubte ich zunächst, daß der Weg in die Schule ungeheuer lang sei, daß da noch viel geschehen könne (aus solchem scheinbaren Kinderleichtsinn entwickelt sich allmählich, da ja eben die Wege nicht ungeheuer lang sind, jene Ängstlichkeit und totenaugenhafte Ernsthaftigkkeit) auch war ich, wenigstens noch auf dem Altstädter Ring, sehr im Zweifel, ob die Köchin, die zwar Respektsperson aber doch nur eine häusliche war, mit der Welt-Respekts-Person des Lehrers überhaupt zu sprechen wagen würde. Vielleicht sagte ich auch etwas derartiges, dann antwortete die Köchin gewöhnlich kurz mit ihren schmalen unbarmherzigen Lippen, ich müsste es ja nicht glauben, aber sagen werde sie es. Etwa in der Gegend des Einganges zur Fleischmarktgasse – es hat noch eine kleine historische Bedeutung für mich (in welcher Gegend hast Du als Kind gelebt?) – bekam die Furcht vor der Drohung das Übergewicht. Nun war ja die Schule schon an und für sich ein Schrecken und jetzt wollte es mir die Köchin noch so erschweren. Ich fieng zu bitten an, sie schüttelte den Kopf, je mehr ich bat, desto wertvoller erschien mir das, um was ich bat, desto größer die Gefahr, ich blieb stehn und bat um Verzeihung, sie zog mich fort, ich drohte ihr mit der Vergeltung durch die Eltern, sie lachte, hier war sie allmächtig, ich hielt mich an den Geschäftsportalen, an den Ecksteinen fest, ich wollte nicht weiter, ehe sie mir nicht verziehen hatte, ich riß sie am Rock zurück (leicht hatte sie es auch nicht) aber sie schleppte mich weiter unter der Versicherung auch dieses noch dem Lehrer zu erzählen, es wurde spät, es schug 8 von der Jakobskirche, man hörte die Schulglocken, andere Kinder fiengen zu laufen an, vor dem Zuspätkommen hatte ich immer die größte Angst, jetzt mußten auch wir laufen und immerfort die Überlegung: „sie wird es sagen, sie wird es nicht sagen“ – nun sie sagte es nicht, niemals, aber immer hatte sie die Möglichkeit und sogar eine scheinbar steigende Möglichkeit (gestern habe ich es nicht gesagt, aber heute werde ich es ganz bestimmt sagen) und die ließ sie niemals los.“

(Franz Kafka, Briefe 1918 – 1920, Frankfurt/Main 2023, S. 190 ff.)

Diese Schilderung entstammt der Feder eines Schriftsteller, der über ein Erlebnis aus seiner Kindheit erzählen möchte und so ist es eher anekdotisch als autobiographisch zu lesen, insbesondere auch dann, wenn der Leser und die Leserin die Klammerung „(leicht hatte sie es auch nicht)“ in den Fokus setzt.

Es gibt auch weitere Zeugnisse über die Volksschulzeit von Franz Kafka, zum Beispiel die Erinnerungen seines Freundes Hugo Bergmann:

„Ich war Schulkollege Kafkas von unserem ersten Schultage im Herbst 1889 bis zu unserer Reifeprüfung im Sommer 1901, also durch 12 Jahre.
Wir wohnten als Kinder nahe beieinander und hatten denselben Schulweg in unsere Volksschule am Fleischmarkt. Wenn wir von der Umgebung der Theinkirche kommend in die Schule gingen, hatten wir erst vorbeizugehen an den vielen Fleischläden des Marktes […]
So kam es, daß wir beide am 15.September 1889 […] in die „Deutsche Volks- und Bürgerschule in Prag I“ geführt wurden, um dort vier Jahre lang zu lernen.“

(Hans-Gerd Koch, Als Kafka mir entgegenkam…, Berlin 2013, S. 20)

Oder die Erinnerungen seines Freundes Hugo Hecht, der ebenfalls wie Hugo Bergmann Kafka zwölf Jahre lang in der Schule begleitete und der die gemeinsamen Schulwege folgendermaßen schildert:

„Am 16. September 1889 ging Kafka das erste Mal zur Schule. Seine Eltern wohnten damals im Haus Nr. 2 am Altstädter Ring. Es war nur ein kurzer Spaziergang zur Schule, wohin auch ich am selben Tag von meiner Mutter gebracht wurde. Die deutsche Knaben-, Volks und Bürgerschule stand am Fleischmarkt […] Meine Mutter kannte Kafkas Mutter, da sie beide Mitglieder derselben jüdischen Frauenvereine waren. Was war natürlicher als daß die beiden Mütter nach dem ersten Schultag den kurzen Weg zu Kafkas Haus zusammen gingen. Und vor ihnen schritten brav die kleinen Söhne – Kafka und ich […] Vom nächsten Tag an wurden die Schüler von älteren Geschwistern – wie ich – zur Schule gebracht oder von den Dienstmädchen – wie Kafka. Aber schon nach wenigen Tagen lernten wir, den Heimweg allein zu machen. Prag war damals eine etwas schläfrige, stille Provinz-Hauptstadt mit wenig Verkehr. AUf unserem Weg vom Haus zur Schule, hatten wir nur einmal die Pferde-Straßenbahn zu kreuzen, so daß man uns Kleine ruhig alleine gehen ließ. Auch wenn Kafka von dem Dienstmädchen oder einem Angestellten aus dem Geschäft seiner Eltern abgeholt wurde, gingen wir fast stets in Gruppen in verschiedenen Richtungen zusammen. Fast stets war Kafka in unserer Gruppe, die an seinem Haus vorbei gehen mußte, um nach Hause zu gelangen.“

(Hans-Gerd Koch, Als Kafka mir entgegenkam…, Berlin 2013, S. 32)

Diese beiden Erinnerungen legen ebenso nahe, dass Kafkas Schilderungen mehr anekdotisch zu interpretieren ist. Es erscheint mir eher unwahrscheinlich, dass lediglich der Heimweg in Gruppen bestritten wurde, sondern vermutlich ebenso der Weg zur Schule am Morgen in einer Gruppe getan wurde und dass somit die Begleitung durch die Köchin eher die Ausnahme als die Regel über ein gesamtes Jahr war.

Es ist übrigens interessant, dass sich die beiden obigen Erinnerungen im Datum unterscheiden: der erster Schultag von Franz und den beiden Hugos war der 16. September 1889, denn der 15. September fiel im Jahr 1889 auf einen Sonntag.

Anhand des oben auszugsweise zitierten Briefes an Milena hat Hartmut Binder den Schulweg ausführlich rekonstruiert, mit Bildern, Beschreibungen und Daten versehen, so dass der Weg des kleinen Kafkas einem lebhaft vor Augen geführt wird.

Quellen:
– Franz Kafka, Briefe 1918 – 1920, Frankfurt/Main 2013
– Reiner Stach, Kafka. Die frühen Jahre, Frankfurt/Main 2014
– Hartmut Binder, Franz Kafka. Ein Leben in Bildern, Prag 2024
– Detlev Arens, Prag. Kunst und Geschichte der goldenen Stadt, Köln 1991 (Beitragsbild)
– Hans-Gerd Koch, Als Kafka mir entgegenkam…, Berlin 2013


Kafkas Lieblingschwester Ottla

Am 29. Oktober 1892 wurde Ottilie Kafka, genannt Ottla, Franz Kafkas jüngste und liebste Schwester geboren, die einen besonderen Platz in dem Leben von Franz Kafka einnahm. Diesen besonderen Platz eroberte sie sich insbesondere dadurch, dass sie erfolgreich gegen ihren Vater rebellierte. Gegen den Willen ihres Vaters widmete sie sich 1917 der Landwirtschaft, interessierte sich für den Zionismus, trat einem Club jüdischer Frauen und Mädchen bei und heiratete 1920 einen katholischen Tschechen namens Josef David – dies war alles ganz nach dem Geschmack Franz Kafkas.

Nach Kafkas Blutsturz im Sommer 1917 verbrachte er mehrere Monate von September 1917 bis April 1918 bei Ottla auf ihrem Zürauer Gut. Dort entstanden die Zürauer Aphorismen und Kafka bezeichnete diese Zeit oftmals als eine sehr glückliche Zeit.

Mit Josef David hatte Ottla Davidová, geborene Kafka, zwei Töchter: Vera (1921 – 2015) und Helena (1923 – 2005), doch die Ehe war nicht glücklich und wurde 1940 geschieden.

Gleich dem Schicksal ihrer Schwestern, so endete auch das Leben von Ottla in einem Konzentrationslager. Im August 1940 wurde Ottla Davidová nach Theresienstadt deportiert und im Herbst 1943 begleitete sie als freiwillige Betreuerin einen Transport polnischer jüdischer Kinder nach Auschwitz im sicheren Wissen dort den Tod zu finden.