Am Nachmittag des 3. Aprils 1913 stellt sich Franz Kafka in der Blumen- und Gemüsegärtnerei Dvorsky in Nusle, einem südlichem Stadtteil von Prag, vor, was durch einen Brief an Max Brod dokumentiert ist:

„[…] Ich würde heute kommen liebster Max, nur habe ich heute einen wichtigen Termin. Ich gehe nach Nusle und werde versuchen bei einem Gemüsegärtner auf der Nusler Lehne für Nachmittagsarbeit aufgenommen zu werden […]“

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, S. 152)

In der Gärtnerei gibt Kafka vor, durch diese Gelegenheitsarbeiten etwas über die Gärtnerei erlernen zu wollen, doch in Wahrheit sucht Kafka händeringend nach einer sinnvollen Beschäftigung, die ihm Bodenhaftung vermittelt. Kafka litt unter Neurasthenie, einer Modekrankheit zum Beginn des 20. Jahrhunderts, eine nervöse Schwäche, ein melancholischer Zustand, eine Erschöpfung vom Alltag, die insbesondere in der gehobenen Gesellschaftsschicht und unter Künstlern verbreitet war. Auch Rainer Maria Rilke, Egon Schiele und Robert Musil litten zur gleichen Zeit unter dieser depressiven Erkrankung, die man heute nicht mehr diagnostiziert.

Kafkas psychischer Zustand war im Frühjahr 1913 sehr labil und dies äußerte sich auch in körperlichen Leiden, er hatte ständig Kopf- und Zahnschmerzen, er litt unter Schlaflosigkeit und hatte Angst wahnsinnig zu werden. In seinen Briefen und Tagebucheinträgen finden sich seit dem Herbst 1912 immer wieder Selbstmordgedanken und die seltsamsten Phantasien, so schreibt er vorangehend im gleichen Brief vom 3. April 1913 an Max Brod:

„[…] Sonst hielte ich mich, wenn es schon nirgends sonst gieng, wenigstens am Bureau fest, wenn ich nur meiner Lust folgen würde und viele Hemmungen gibt es nicht, nicht besseres, als meinem Direktor mich zu Füßen zu werfen und ihn zu bitten, mich aus Menschlichkeit (andere Gründe sehe ich nicht, die Außenwelt sieht heute noch glücklicherweise fast nur andere) nicht hinauszuwerfen. Vorstellungen wie z.B. die, daß ich ausgestreckt auf dem Boden liege, wie ein Braten zerschnitten bin und ein solches Fleischstück langsam mit der Hand einem Hund in die Ecke zuschiebe […]“

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, S. 152)

In der selben Nacht vom 3. auf den 4. April schreibt er an Felice Bauer

„[…] ich gehe in einer sinnlosen Wut und Verzweiflung herum, nicht vielleicht gegen meine Umgebung, gegen meine Bestimmung, gegen das was über uns ist, sondern nur und mit Wollust gegen mich, gegen mich allein […] vielleicht wird alles von übermorgen an besser, ich werde nachmittags bei einem Gärtner arbeiten, darüber schreibe ich Dir nächstens.“

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, S. 153f)

Nur vier Tage später kann Franz Kafka stolz von seiner körperlichen Tätigkeit an Felice Bauer berichten:

„Merkst Du an meiner Schrift, dass ich heute schon eine schwere Arbeit geleistet habe und der Federhalter für mich schon eine zu leichte Sache ist. Ja ich habe heute zum erstenmal beim Gärtner draußen in Nusle, einer Vorstadt, gearbeitet, im kühlen Regen nur in Hemd und Hosen. Es hat mir gut getan […] Mein Hauptzweck war mich für ein paar Stunden von der Selbstquälerei zu befreien […]“

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, S. 158)

Lange hielt es Kafka in dieser Gärtnerei nicht aus, denn am 30. April erfuhr er von der Gärtnerstochter eine Geschichte, die ihn erschreckte. Am 2. Mai 1913 trägt er in sein Tagebuch ein:

„Die Geschichte der Gärtnerstochter, die mich vorgestern in der Arbeit unterbrach. Ich, der ich durch die Arbeit meine Neurasthenie heilen will, muß hören, daß der Bruder des Fräuleins […] sich vor zwei Monaten im Alter von achtundzwanzig Jahren aus Melancholie vergiftet hat.“

(Franz Kafka, Tagebücher 1910 – 1923, Frankfurt/Main 1986, S. 222)

Welch Ironie! Dies ist die letzte Erwähnung der Gärtnerei Dvorsky. Kafka wird nie wieder darüber sprechen oder schreiben.