Kafka lebte in einer nervösen Zeit und es gehörte in gehobenen Gesellschaftsschichten, besonders unter zahlreichen Künstler (Ludwig Kirchner, Egon Schiele, Robert Musil, Thomas Mann, Rainer Maria Rilke und viele andere), zum guten Ton von den dramatischen Änderungen in Technik und Gesellschaft derart überfordert zu sein, dass man überstrapaziert die Segel strich. Man ging zum Arzt und erhielt eine Diagnose wie Robert Musil, der laut Florian Illies im März 1913 zum Nervenarzt ging:

„Derselbe leidet an den Erscheinungen einer schweren Herzneurose: Anfälle von Herzklopfen mit jagendem Puls, Palpitationen beim Einschlafen, Verdauungsstörungen verbunden mit den entsprechenden psychischen Erscheinungen: Depressionszuständen und mit hochgradiger körperlicher und psychischer Ermüdbarkeit.“

(Florian Illies, 1913, 9. Auflage, Frankfurt/Main 2012)

Krankmeldungen wegen nervöser Leiden gehörten zum Praxisalltag der Allgemeinmediziner – diese Krankheit, von der man heute weiß, dass sie lediglich eine Modeerscheinung war, nannte man damals „Neurasthenie“, von der Otto von Hartleben in der Satirezeitschrift „Simplicissimus“ schrieb:

Raste nie,
doch haste nie,
sonst haste die
Eurasthenie!

Meyers Konversations-Lexikon in der vierten Auflage von 1888 notiert lediglich die Bedeutung des Fachbegriffs: „Neurasthenie (griech.) f. Nervenschwäche“ – mehr gab es damals noch nicht zu sagen, auch wenn die Erkrankung schon 1880 vom amerikanischen Nervenarzt George M. Beard erstmalig diagnostiziert wurde. Im deutschsprachigen Raum war sie noch nicht wirklich angekommen.
Doch um die Jahrhundertwende ändert sich das Tempo im alltäglichen Leben in Europa drastisch: durch die Eisenbahn rückten entfernte Orte zusammen und es fand ein steigender Reiseverkehr statt, die Städte wuchsen und in ihnen waren immer mehr Fussgänger plötzlich mit schnellen Automobilen und elektrischen Straßenbahnen konfrontiert, die die Pferdefuhrwerke immer mehr verdrängten, es wurden die ersten Metros eingebaut, es passierten die ersten Verkehrsunfälle mit Autos und auch Fahrrädern, die ersten Flugzeuge kreisten über die Himmel, Telefone und Telegramme ermöglichten eine „Echtzeitkommunikation“, die sensible Gemüter erheblich unter Druck setzten und Armbanduhren begannen die Taschenuhren zu ersetzen – was heute der permanente Blick auf das Handy ist, war damals der andauernde Blick auf die Uhr – der Zeitdruck wurde immer intensiver: nichts verpassen, nicht unpünktlich sein, seinen Tagesablauf optimieren. Das ist nicht weit von unserem aktuellen Erleben und den Folgen im Burnout entfernt.

Im Großen Brockhaus von 1932 wird die Neurasthenie schon ausführlicher beschrieben:

„Neurasthenie [grch. ‚Nervenschwäche‘], leichteste Form der durch äußere Schädigungen hervorgerufenen psychischen Störung […] Im Anschluss an Erschöpfung körperlicher und geistiger Art kommt es zu dem als N. bezeichneten psychischen Zustandsbilde […] Die Kranken sind reizbar, sie können ihre Tribe nicht beherrschen, brausen bei jeder Gelegenheit auf. Werden diese Kranken in eine völlig veränderte Umgebung gebracht, in der sie Ruhe haben und gut verpflegt werden, so pflegen die Symptome schon nach wenigen Tagen zu verschwinden.“

In der 258. Auflage des Psychrembel lesen wir über Neurasthenie keinen eigenen Artikel mehr, es wird hier auf dies Asthenie (Ermüdbarkeit und Kraftlosigkeit) und besonders die Neurosen von Freud verwiesen.

Sicherlich hat sich Florian Illies auch intensiv mit der Neurasthenie beschäftigt, denn er karikiert in seinem hervorragenden Zeitbild und lesenswerten Rückschau des Jahres 1913 immer wieder mit Sätzen wie „Appropos kränkelnd: Was macht eigentlich Rilke?“ und dem immer wiederkehrenden „Rilke hat Schnupfen“.

Franz Kafka war – wie gesagt – ein sensibler, nervöser Mensch und litt unter Neurasthenie, was er sich zum einen durch Konsultationen bei verschiedenen Ärzten bescheinigen ließ und zum anderen durch verschiedene Kuraufenthalte zu kurieren suchte. So besuchte er 1903 das Naturheilsanatorium Lahmann in Dresden, 1905 und 1906 die Wasserheilanstalt des Dr. Schweinburg in Zuckmantel in Schlesien, 1911 die Naturheilanstalt Fellenberg bei Zürich und 1912 die Musteranstalt für reines Naturerleben Jungborn im Harz – um nur einige zu nennen. In diesen Aufenthalten suchte Franz Kafka Erholung und Heilung seiner Nervosität, zum Teil mit Methoden, die heute recht seltsam anmuten. Zum Beispiel bestand die Therapie in der Musteranstalt für reines Naturerleben Jungborn aus allgegenwärtigen Nacktsein und Sonnenbaden und der heilenden Kraft der Erde, die mitunter auch gegessen wurde.

Seine Nervosität dokumentiert er an zahlreichen Stellen im Tagebuch, wie z.B. am 8. Dezember 1912 „ich bin nervöser, schwächer geworden“ oder am 21. August 1913 „Nervöse Zustände schlimmster Art beherrschen mich, ohne auszusetzen“ oder am 17. März 1915 „mit förmlich zerrissenen Nerven auf dem Kanapee gelegen“. Nicht nur die Kur- und Sanatoriumsaufenthalte sollten ihm Linderung verschaffen, auch sein tägliches Nacktturnen am offenen Fenster – man nannte es Müllern -, sein Fletschern, d.h. jeden Bissen, ja wirklich jeden Bissen, vierzigmal zu kauen, sein Vegetarismus, sein Schwimmen, all diese Tätigkeiten sollten seiner Gesundheit förderlich sein, auch der Versuch des Gärtnern, wie wir morgen lesen werden.

Ob es ihm wirklich half? Wir wissen es nicht, können es aber anhand seiner Biografie vielleicht eher bezweifeln. Aber vielleicht wäre er ohne all seine eigenen Gegenmaßnahmen noch neurotischer gewesen?