Am Abend des 9. März 1908 liest Max Brod seinen Freunden Willy Haas (1871 – 1973) und Franz Werfel (1890 – 1945) einige Text von Franz Kafka vor. Anschließend fällt Franz Werfel sein literarisches Urteil: „Das kommt niemals über Bodenbach hinaus.“ Bodenbach liegt nördlich von Prag an der deutschen Grenze und Werfel drückte damit aus, dass er Kafka für einen regionalen Dichter hält, der es zu keinem größeren Erfolg bringen wird. Mit dieser Einschätzung lag Werfel ganz falsch, wie man kaum erläutern muss, denn heute ist Franz Kafka auflagenstärker und Franz Werfel, wenn auch zu Unrecht, beinah vollständig vergessen.
Willy Haas erzählt von diesem Abend in seinen Erinnerungen:
„Nachdem Max Brod mir öfters von seinem geheimnisvollen, genialen Freund erzählt hatte, sagte er sich einmal bei mir zuhause an, um ein paar Fragmente Kafkas vorzulesen, die demnächst in einer neuen, höchst luxuriösen und snobistischen Zeitschrift ‚Hyperion‘ erscheinen würden. Außer mir sollte nur noch Werfel zugegen sein.
Die „Vorlesung spielte sich in dem einigermaßen grotesken Repräsentationsraum oder ‚Speisezimmer‘ unserer Wohnung ab. Schwere geschnitzte Eichenmöbel in einem tollen gotisch-ägyptischen Mischstil, mit Sphinxen und Spitzbogen, dazu Perserteppiche und Meißner Rokoko-Porzellanfiguren bildeten die Szenerie.
Brod las eine Skizze von Kafka, noch eine, und noch eine dritte. Werfel und ich schauten einander verwundert an. Dann sagte Werfel ziemlich aufgebracht: ‚Das kommt niemals über Bodenbach hinaus!‘ […]
Bitter und stumm empört packte Brod die Manuskripte ein. Wir sprachen nicht mehr darüber.“
(Hans-Gerd Koch, „Als Kafka mir entgegenkam“, Wagenbach-Verlag 2013, S.82)
Ob Max Brod wirklich so empört war, wissen wir zwar nicht, wir können es aber bezweifeln, denn gehörte auch Franz Werfel zu seinen literarischen Protégés – genauso wie Kafka – und alle pflegten auch über diesen Abend hinaus eine intensive Freundschaft und letztlich schätzten sich alle gegenseitig als Menschen und als Dichter.
Kafka äußert sich über Werfel am 18. Dezember 1911 in einem emotionalen Ausbruch:
„Ich hasse W., nicht weil ich ihn beneide, aber ich beneide ihn auch. Er ist gesund, jung und reich, ich in allem anders. Außerdem hat er früh und leicht mit musikalischem Sinn sehr gutes geschrieben, das glücklichste Leben hat er hinter sich und vor sich, ich arbeite mit Gewichten, die ich nicht loswerden kann und von Musik bin ich ganz abgetrennt.“
(Franz Kafka, Tagebücher, Fischer Verlag, S. 299)
Dieser Eintrag wurde von Max Brod in seiner Herausgabe der Tagebücher komplett unterschlagen und wurde erst mit der kritischen Ausgabe in den 1980er Jahren durch Malcom Pasley öffentlich. Man sollte diesen Eintrag in das Tagebuch aber auch nicht wortwörtlich nehmen, sondern als entfesselte Begeisterung und Antiphrase deuten.