In dem Text „Ein Hungerkünstler“ in der Sammlung von vier Texten „Der Hungerkünstler“ (1924) schreibt Franz Kafka von einem Künstler, der sich öffentlich in einem einsehbaren Käfig einsperren lässt, um sich gegen Bezahlung beim Hungern über mehrere Woche beobachten zu lassen. Dieser Künstler ist in seine Kunst so vernarrt, dass er mit dem Hungern gar nicht mehr aufhören will und schließlich im Varieté vergessen wird und tatsächlich verhungert. Am Ende seines Lebens relativiert der Hungerkünstler in seinen letzten Worten gegenüber einem Aufseher seine Kunst und betont das Paradoxe seines Lebens:

„Weil ich hungern muß, ich kann nicht anders“, sagte der Hungerkünstler. „Da sieh mal einer“, sagte der Aufseher, „warum kannst du denn nicht anders?“ „Weil ich“, sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuß gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verloren ginge, „weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.“ 

Inhaltlich eine skurrile Geschichte, die man zunächst als reine Fiktion von Franz Kafka verorten möchte, die jedoch einen wahren Hintergrund hat, denn diese Hungerkünstler hat es in der Tat bis in die 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gegeben. Der große Brockhaus in der 15. Auflage schreibt hierzu 1931:
Hungerkünstler, Menschen, die für Geld sehen lassen, daß sie sich außergewöhnlich lange jeder Nahrung erhalten. Solche H. waren schon im Mittelalter bekannt“. 

Und ein solcher Hungerkünstler war der aus Italien stammende Riccardo Sacco, „dessen Auftritt vom 21. März bis 10. April 1905 im Prager Hofbräuhaus […] zweifelsohne als Vorbild für Kafkas Erzählung steht. Wahrscheinlich hat der noch junge und lebenslustige Kafka das Hofbräuhaus irgendwann während der einundzwanzigtägigen Hungertour Saccos besucht“ (siehe Northey). Ob Kafka tatsächlich diesen Hungerkünstler im Hofbräuhaus gesehen hat, ist nicht überliefert und auch in Stachs ausführlicher Biographie „Kafka – Die frühen Jahre“ findet sich kein Beleg dazu, immerhin wird aber Kafka recht wahrscheinlich in der lokalen Presse, dem Prager Tagblatt und der Deutschen Zeitung Bohemia – beide von der Familie Kafka abonniert, hierüber gelesen haben und vielleicht auch inspiriert worden sein.

Quelle: Anthony Northey, „Neue Funde zum Hungerkünstler Riccardo Sacco“ in „Kafka-Kurier, Numero 1“, Stroemfeld Verlag, 2014

Sie können die vier Geschichten aus „Der Hungerkünstler“ auch hier lesen.