Kafkas erster Flirt
In den Schulferien 1900 verbrachte Franz Kafka zum wiederholten Male mit seiner Familie die Sommerfrische im etwa zehn Kilometer nördlich von Prag gelegene Rostok. Dort hatten sie sich eine Wohnung beim Postmeister Kohn gemietet und der siebzehnjährige Franz Kafka verliebte sich wohl in dessen gleichaltrige Tochter Selma, der er in einem Album folgende Worte hinterließ:
„Wie viel Worte in dem Buche stehn! Erinnern sollen sie! Als ob Worte erinnern könnten!
Denn Worte sind schlechte Bergsteiger und schlechte Bergmänner. Sie holen nicht die Schätze von den Bergeshöhn und nicht die von den Bergestiefen.
Aber es gibt ein lebendiges Gedenken das über alles Erinnerungswerte sanft hinfuhr wie mit kosender Hand. Und wenn aus dieser Asche die Lohe aufsteigt, glühend und heiß, gewaltig und stark und Du hineinstarrst, wie vom magischen Zauber gebannt, dann —
Aber in dieses keusche Gedenken, da kann man sich nicht hineinschreiben mit ungeschickter Hand und grobem Handwerkszeug, das kann man nur in diese weißen, anspruchslosen Blätter. Das that ich am 4. September 1900.
Franz Kafka“
(Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, Frankfurt/Main 2002, S. 8)
Überliefert wurde dieser Text durch Selma Robitschek (geb. Kohn) selbst, die sich vermutlich 1955 postalisch mit einer Photokopie des Textes und einem Begleitschreiben an Max Brod wandte, der diesen Text als frühesten Text von Franz Kafka mit in seine erste Briefausgabe aufnahm.
„Wer ich bin? Die Tochter des Oberpostmeister Kohn aus Roztok bei Prag. Kennen Sie Roztok, den Wald? Erinnern Sie sich an den steilen Weg dahin und wie man plötzlich auf der herrlichsten Waldlichtung steht, das hohe Gras voll Himmelschlüssel, Marientränen, Glockenblumen und mitten darin eine sehr alte Eiche! Unter dieser Eiche sind wir Kinder, Franz und ich, oft gesessen und er hat mir Nietzsche vorgelesen, was und ob ich es verstand, Dr. Brod, es liegen 55 jahre dazwischen, wir haben uns gegenseitig angeschwärmt, wie man damals war, ich war schön und er war sehr klug und beide waren wir so himmlisch jung. Kafkas wohnten einen Sommer lang bei uns im 1. Stock. Und unser Garten lief in einen hohen Berg aus. Oben stand eine Bank und des Sommers gingen wir oftmals, Franz eine brennende Kerze in der Hand, zu dieser Bank, am anderen Ufer Klettau und Bruky beleuchtet und er wollte mich überreden, meinen Vorsatz zu studieren auszuführen. Aber es nütze nichts, mein Vater erlaubte es nicht – man hat damals den Vätern gefolgt – und so kamen wir auseinander.“
(Franz Kafka, Briefe 1902 – 1924, Frankfurt/Main 1975, S. 495ff)
(Quelle: Reiner Stach, Kafka. Die frühen Jahre, Frankfurt/Main 2014, S. 218f)