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Erste kommentierte Kafka-Ausgabe

Im Kafkajahr 2024 erscheint im Wallstein-Verlag, der bereits seit vielen Jahren um die Werke von Franz Kafka sehr bemüht ist, die erste kommentierte Leseausgabe der Werke von Franz Kafka. Den Auftakt macht am 28. Februar „Der Prozess“ und laut Verlagswebseite sind folgende Bände in weiterer Planung „Das Schloss“, „Der Verschollene“, „Erzählungen I“ und „Erzählungen II“. Laut Verlagswebseite soll „der ausführliche Stellenkommentar […] die wesentlichen Motive, Begriffe und Erzähltechniken, aber auch bedeutsame Streichungen und Korrekturen [erläutern], was einen Blick in Kafkas Werkstatt ermöglicht.“

Herausgeber dieser Ausgabe ist kein geringer als Reiner Stach.


Das Kafka-Jahr beginnt

Im Jahr 2024 jährt sich der Todestag von Franz Kafka zum 100. Mal, genauer gesagt am 3. Juni 2024, und dies kann und sollte Anlass genug sein, sich mit diesem Autor eingehend zu beschäftigen.

Unter Schülern mag es unbestritten sein, man liebt oder hasst Kafka… okay, nein, wer Schüler ist, der hasst Kafka oder ist ein Außenseiter … okay, auch nicht politisch korrekt… Kafka polarisiert wie kaum ein anderer deutschsprachiger Autor und das, obwohl Franz Kafka einer der meistgelesenen (hierzu später mehr) deutschsprachigen Autoren ist.

Ich versuche es anders zu formulieren: Wer Kafkas Texte liest und sich auf diese einläßt, der liebt, versteht und bewundert Kafkas Prosa. Wer die Werke Kafkas noch nicht gelesen hat oder sich bisher nicht auf ihn einlassen konnte, der hat die große Freude, dass das ganze Vergnügen noch vor ihm oder ihr liegt und der neue Leser und die neue Leserin sich noch auf den Menschen und besonders den Autor Franz Kafka einlassen kann.

Für dieses Jahr soll es also nur einen Vorsatz geben: Kafka lesen!


Jubiläen in 2024

Es ist nicht nur Kafkas Todestag, der sich 2024 zum hundertsten Male jährt, es gibt weitere Jubiläen und runde Jahrestage:

  • 8. Januar 1324: der Entdecker Marco Polo stirbt (700. Todestag)
  • 21. Januar 1924: der russische Revolutionär und Politiker Wladimir Iljitsch Lenin stirbt (100. Todestag)
  • 23. Februar 1899: der Schriftsteller Erich Kästner wird geboren (125. Geburtstags)
  • 3. April 1924: der Schauspieler Marlon Brando wird geboren (100. Geburtstag)
  • 22. April 1724: der Philosoph Immanuel Kant wird geboren (300. Geburtstag)
  • 28. April 1874: der Publizist und Schriftsteller Karl Kraus wird geboren (150. Geburtstag)
  • 29. Juli 1974: der Schriftsteller Erich Kästner stirbt (50. Todestag)
  • 28. August 1749: der Dichter Johann Wolfgang von Goethe wird geboren (275. Geburtstag)
  • 28. September 1924: der Schauspieler Marcello Mastroianni wird geboren (100. Geburtstag)
  • 29. November 1924: der Komponist Giacomo Puccini stirbt (100. Todestag)
  • 20. Dezember 1924: die Schriftstellerin Friederike Mayröcker wird geboren (100. Geburtstag)

Dies Liste ist sicherlich nicht vollständig und kann gerne in den Kommentaren oder via E-mail an feedback@franz-kafka.org ergänzt werden.


… bisher nichts Nachteiliges vorgekommen …

Um den 19. September 1907 bittet Dr. Franz Kafka per Brief die „hochlöbliche k.k. Polizeidirektion in Prag“ um „[…] Ausstellung eines Wohlverhaltungszeugnisses […]“ – heute besser bekannt unter dem Namen des polizeilichen Führungszeugnisses. Dies war nötig für die zum 1. Oktober beginnende einjährige Gerichtspraxis, die für Juristen verpflichtend und auch unbezahlt war, und die Kafka bis 1908 am k.k. Landgericht in Prag absolvierte.

Am 25. September des gleichen Jahres wurde Kafka folgendes Zeugnis ausgestellt:

„Die k.k. Polizeidirektion bestätigt, daß gegen den im Jahre 1883 geborenen, nach Prag zuständigen in Prag Zeltnergasse No 3 wohnhaften Herrn JUDr Franz Kafka hieramts bisher nichts Nachteiliges vorgekommen ist.
Dieses Zeugnis wird behufs Bewerbung um Aufnahme in den k.k. Staatsdienst ausgestellt.“

(Franz Kafka, Briefe 1900 – 1912, Frankfurt/Main 1999)

So stellen wir uns Kafka oft vor: nach innen möglicherweise neurotisch, psychotisch, irre, verschroben, außergewöhnlich, undurchdringbar, verkorkst…, aber nach außen immer tadellos und mit weißer Weste. Aber dieses Bild ist falsch, was in diesen Seiten noch öfter belegt werden wird. Wir können uns Kafka auch durchaus als biertrinkenden, nackten Motorradfahrer vorstellen, wie er aus Triesch im August 1907 an seinen Freund Max Brod in einem Brief schreibt:

[…] Vorläufig darf ich noch bis zum 25. August hier leben. Ich fahre viel auf dem Motorrad, ich bade viel, ich liege nackt im Gras am Teiche, bis Mitternacht bin ich mit einem lästig verliebten Mädchen im Park, ich habe schon Heu auf der Wiese umgelegt, ein Ringelspiel aufgebaut, nach dem Gewitter Bäumen geholfen […] viel Billard gespielt, große Spaziergänge gemacht, viel Biel getrunken und ich bin auch schon im Tempel gewesen. Am meisten Zeit aber – ich bin sechs Tage hier – habe ich mit zwei kleinen Mädchen verbracht, sehr gescheiten Mädchen, Studentinnen, sehr socialdemokratisch […]“

(Franz Kafka, Briefe 1900 – 1912, Frankfurt/Main 1999)

Zieht sich Kafka eine Motorradkluft an, bevor er aufs Bike steigt? Hat er wirklich Heu umgelegt oder jemand flachgelegt? Mit wem spielt er Ringelspiele? Wieviel Bier hatte er getrunken und ist er so in den Tempel gegangen? Lässt man seinen irrealen Assoziationen freien Lauf entsteht ein Kafkabild, das gut in eine seiner Geschichten passen könnte.


Kafka kommt ins Fernsehen

Anlässlich der hundertsten Todestag in 2024 haben im Frühsommer 2023 in Wien und Salzburg die Dreharbeiten zur Miniserie „Kafka“ begonnen. Die sechsteilige Fernsehserie, die ORF und ARD im Frühjahr 2024 ausstrahlen wollen, basiert auf der hervorragenden Franz Kafka Biografie von Rainer Stach und fokusiert sich insbesondere auf die – sagen wir ruhig komplizierten und neurotischen – Liebesbeziehungen von Franz Kafka zu Frauen wie Felice Bauer, Dora Diamant und Milena Jesjenská.

Das Drehbuch für die Serie stammt aus der Feder von Daniel Kehlmann und wir können sicherlich gespannt sein auf dieses kulturelle Serienhighlight im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.


Warum Kafka lesen?

Jede Frage „Warum….?“ kann man abschließend mit einem einfachen „Warum denn auch nicht!“ beantworten, damit ist nicht etwa die Diskussion im Keime erstickt, sondern es steckt der Ansatz dahinter, dass vielleicht nicht alles eine Antwort erwartet, nicht alles immer zu hinterfragen ist und dass vielleicht auch einfach mal Dinge offen auszuprobieren sind.

Aber es gibt auch gute Gründe Kafka zu lesen! Zum Beispiel….

lässt Kafka uns Staunen

Wer „Die Verwandlung“ von Kafka liest, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus und möchte am liebsten in den Text springen und alle mal kräftig rütteln. Da liegt Gregor Samsa im Bett und berichtet nüchtern, lakonisch, er sei in ein Ungeziefer verwandelt… aber warum denn nur? Stell doch endlich mal die Frage „warum?“.

Josef K. wird eines Tages verhaftet, er weiß nicht warum und das Ganze ist auch aberwitzig absurd und dennoch sucht er einen Verteidiger ohne zu wissen, wessen er beschuldigt wird und akzeptiert schließlich sein Urteil, ohne zu wissen, wie dieses lautet. Das kann doch gar nicht sein und dennoch wird es uns so sachlich und alternativlos geschildert, dass wir am Ende des Romans vollkommen verwundert alleine zurückbleiben.

Ein Sohn wird von seinem Vater zum Selbstmord verurteilt, ein Trapezkünstler lebt hoch oben im Trapez und will den Boden nie wieder berühren, ein Künstler hungert sich weg, Türsteher versperren Tore, die stets offen sind und eigentlich jederzeit passiert werden können… all dies sind Ausschnitte aus Kafkas Prosawelt zum Staunen, wundern und vergnügten Lesen.

… schult Kafka die Sprache

Kafkas Prosa ist eine ganz einfache Sprache. Nüchtern, direkt, knapp. Sie kennt überwiegend nur kurze Sätze, verwendet keine Fremdwörter, ist immer geradeaus und es wohnt ihr dadurch im Lesen eine objektive Wahrheit inne. Eben weil sie so kurz, knapp und nüchtern ist, vertraut man ihr und ist von den Texten so gefangen. Es ist diese Sprache, die bei der Lektüre der ersten Zeilen des „Prozess“ dem Leser direkt suggeriert: ja, Josef K. ist verhaftet worden und dies in seinem eigenen Zimmer, anders kann es gar nicht sein, dies hat alles so seine Richtigkeit. Während wir Leser dies so hinnehmen, kommen uns dann doch wieder Zweifel, die zum Staunen führen.
Wer Kafkas Sprache aufmerksam verfolgt, kann lernen, was mit einer einfachen und verdichteten, knappen Sprache alles zu bewegen ist. Hierfür braucht es keiner Kunstgriffe, keiner Schnörkel, keiner Fremdwörter – nur einfache Worte.

… liefert Kafka Zitate

Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen... ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.

„Wege entstehen dadurch, daß man sie geht“

„Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehn der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus.

… hilft Kafka Erkennen

Wie kein anderer deutscher Autor thematisiert Franz Kafka die Abhängigkeit des einzelnen von seiner Gesellschaft, also den ihn umgebenden Menschen. Lange vor den Existenzialisten erkennt Kafka, dass die anderen Mitmenschen einem das Leben zum Paradies oder eben auch zur Hölle machen können, denn zwischenmenschliche Beziehung sind sehr zerbrechlich, wir alle sind auf die anderen angewiesen. Wir können unter den Menschen aufgehen und aufblühen oder scheitern und untergehen.

„Nur dadurch, daß die Menschen alle Kräfte spannen und einander liebend helfen, erhalten sie sich in einer leidlichen Höhe über einer höllischen Tiefe, nach der sie wollen. Untereinander sind sie durch Seile verbunden und bös ist es schon, wenn sich um einen die Seile lockern, und er ein Stück tiefer sinkt als die anderen in den leeren Raum und gräßlich ist es, wenn die Seile um einen reißen und er jetzt fällt. Darum soll man sich an die anderen halten.“

Brief an Oskar Pollak, 21. Dezember 1903


Franz Kafka – 2024

Am 3. Juni 2024 jährt sich der Todestag von Franz Kafka (3. Juli 1883 bis 3. Juni 2024) zum hundertsten Mal und es wird für alle Leser und Bewunderer von Franz Kafka ein ganz besonderes Jahr… so könnte man zumindest glauben oder hoffen und dementsprechend vielleicht eine neue, historische, kritische, umfangreichere oder vielleicht auch nur eine schöne Schmuckausgabe erwarten, doch nichts von alldem bahnt sich an.