Am 27. März erscheint im S. Fischer Verlag Sauerländer „Herr Kafka und die verlorene Puppe“ von Larissa Theule und Rebecca Green. Es handelt sich um eine weitere Adaption einer oft zitierten Kafka-Anekdote. Demnach begegnete Franz Kafka 1923 in Berlin bei einem Spaziergang einem weinenden Mädchen, das ihre Puppe verloren hatte. Kafka tröstete das Mädchen damit, dass er ihr erzählte, die Puppe sei auf Weltreise und werde dem Mädchen sicherlich Briefe schreiben. Diese Briefe las Kafka dem Mädchen dann in den nächsten Tagen bei seinen weiteren Spaziergängen vor.

Eine Quelle dieser Anekdote ist der Band „Als Kafka mir entgegenkam“ von Hans-Gerd Koch im Wagenbachverlag. In dieser Sammlung von Erinnerungen, wird Dora Diamant folgendermaßen zitiert:

„[…] Als wir in Berlin waren, ging Kafka oft in den Steglitzer Park. Ich begleitete ihn manchmal. Eines Tages trafen wir ein kleines Mädchen, das weinte und ganz verzweifelt zu sein schien. Wir sprachen mit dem Mädchen. Franz fragte es nach seinem Kummer, und wir erfuhren, daß es seine Puppe verloren hatte. Sofort erfindet er eine plausible Geschichte, um dieses Verschwinden zu erklären: ‚Deine Puppe macht nur gerade eine Reise, ich weiß es, sie hat mir einen Brief geschickt.‘ Das kleine Mädchen ist etwas mißtrauisch: ‚Hast du ihn bei dir?‘ ‚Nein, ich habe ihn zu Hause liegen lassen, aber ich werde ihn dir morgen mitbringen.‘ Das neugierig gewordene Mädchen hatte seinen Kummer schon halb vergessen und Franz kehrte sofort nach Hause zurück, um den Brief zu schreiben.
Er machte sich mit all dem Ernst an die Arbeit, als handelte es sich darum, ein Werk zu schaffen […] Es war übrigens eine wirkliche Arbeit, die ebenso wesentlich war wie die anderen, weil das Kind um jeden Preis vor einer Enttäuschung bewahrt […] werden mußte.“

Diese „zu Herzen gehende Bilderbuchgeschichte von der tröstenden Kraft der Phantasie“, wie die S. Fischer Verlage sie beschreibt, wurde bereits mehrfach adaptiert, z.B. in Gerd Schneiders „Kafkas Puppe“ im arena Verlag, erschienen 2008. Es ist eine schöne Anekdote, man kann sich dies auch durchaus gut vorstellen und die oben genannten Bücher sind für sich und fiktional betrachtet auch durchaus lesenswert und dennoch: es gibt für diese oft als „wahre Begebenheit“ erzählte Anekdote keine Belege. Niemand weiß, wie das Mädchen hieß, die Briefe wurden bis heute nicht gefunden, es gibt keinen weiteren Belege oder Zeugen für diese Anekdote und schließlich wurde Dora Diamant auch niemals direkt dazu befragt.

Was ich am interessantesten an der ganzen Geschichte und allen Adaptionen und Nacherzählungen finde, ist die Tatsache, dass Dora Diamant aus der Geschichte bei Schneider als auch Theule einfach entfernt wird. Berichtet Dora Diamant von der gemeinsamen Begegnung mit dem Mädchen, so ist es bei allen Adaptionen immer nur Franz Kafka, der dem Mädchen begegnet.