… ist der Titel von Walther Ziegler hervorragender und gut lesbaren Einführung in das Werk von Franz Kafka aus der Sicht eines Philosophen. Dr. Walter Ziegler, promovierter Philosoph und Hochschulllehrer, ist der Autor der bekannten Buchreihe „Große Denker in 60 Minuten“, ein Taschenbuchformat, in dem er sich kurz und bündig, sachlich exakt aber immer gut verständlich auf ca. 120 bis 140 Seiten den Hauptthesen und Wirkungen bedeutender Philosophen und anderer Denker widmet, z.B. „Schopenhauer in 60 Minuten“, „Kant in 60 Minuten“, „Platon in 60 Minuten“ oder „Konfuzius in 60 Minuten“ um nur ein paar wenige zu nennen. Diese Reihe ist grandios und sei an dieser Stelle ganz besonders empfohlen, sie macht immer Lust auf tieferes Verständnis und Lektüre der Hauptwerke der entsprechenden Denker.

In dem Titel „Kafka in 60 Minuten“ widmet sich Dr. Walther Ziegler, der selbst seine Dissertation im Jahr 1992 zum Thema „Die Struktur zwischenmenschlicher Beziehung“ verfasste, der „philosophischen Entdeckung“ Kafkas, wie sehr der Mensch auf die Gesellschaft und den Zuspruch der anderen angewiesen ist, um ein gelungenes Leben führen zu können.

„In allen seinen Romanen und Novellen wirft Kafka einen unbestechlichen Blick auf die Fragilität der zwischenmenschlichen Beziehung. Wie keinem anderen gelingt es ihm, die existentielle Angewiesenheit der Menschen auf andere Menschen zu erfassen […] Die Menschen sind, so Kafka, wie Bergsteiger in einer Art Seilschaft miteinander verbunden, um ihre Existenz gegenseitig abzusichern. Ein Leben lang bekommen sie Halt durch den Seins-Zuspruch und die Anerkennung ihrer Mitmenschen. Doch diese Angewiesenheit auf den Zuspruch der anderen birgt strukturell auch immer die Gefahr, von diesen nicht – oder nicht mehr – anerkannt zu werden.“

(Ziegler, S. 8f.)

Diese präzise und berechtigte Interpretation der Prosa Kafkas wird im folgenden von Walter Ziegler an den Werke „Die Verwandlung“, „Der Steuermann“ (aus dem Nachlass), „Ein Hungerkünstler„, „Der Prozeß“ und „Das Urteil“ verdeutlicht und mit zahlreichen Textstellen und Interpretationen belegt und gedeutet.

Schließlich zieht er das Fazit:

„Kafka zeigt uns in seinen Erzählungen und Romanen auf subtile Weise das Scheitern zwischenmenschlicher Beziehungen. Seine Helden verwandeln sich in einen Käfer, werden vom Vater totgesagt, als Steuermann ausgetauscht, im Hungerkäfig vergessen, oder von unbekannten beschuldigt und hingerichtet. Keinem seiner Helden gelingt es, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Zu sehr fehlt es ihnen an Selbstsicherheit und Vitalität. Doch hinter jeder dieser Geschichten des Scheiterns steckt ein verbogener Hinweis auf die anthropologische Struktur gelingender zwischenmenschlicher Beziehungen. […] Das „Kafkaeske“, das uns in seinen Erzählungen begegnet, kennen wir aus den eigenen Träumen und bisweilen aus der realen Welt. Es ist letztlich nichts anderes als die tiefe Verunsicherung, nicht als das wahrgenommen und bestätigt zu werden, was wir sind und was wir sein können.“

(Ziegler, S. 124f.)

Wer selbst einmal diese Verunsicherung erlebt hat, sie noch erlebt oder sich in diese Verunsicherung hineinversetzen kann, der ist offen für die Texte Kafkas. Und umgekehrt gilt auch, wer die eine solche Verunsicherung noch nicht erlebt hat, kann durch die Lektüre von Kafka eine Empathie für derart Verunsicherte entwickeln. Denn laut Ziegler verschafft uns Kafka auch Trost:

„Ausnahmslos alle seine Protagonisten sind auf einer ruhelosen Suche, einer Suche, die trotz größter Anstrengung nicht ans Ziel führt. Sie kommen nie wirklich im Leben an. Kafka hat für eine Helden und auch für seine Leser keine Lösungen parat, keine Wendepunkte zum Besseren, kein Happy End. Im Gegenteil, seine Erzählungen ziehen uns unwiderstehlich in einen Strudel emotionaler Heimatlosigkeit. Und dennoch haben sie für jeden von uns eine leise und tröstliche Botschaft.
Wer einmal wieder den ganzen Tag lang nicht wirklich im Leben angekommen ist oder morgens aus dem kafkaesken Traum erwacht, weiß: Er ist damit nicht allein.“

(Ziegler, S. 128)

Quelle: Walther Ziegler, „Kafka in 60 Minuten“, Books on Demand, Norderstedt 2021)