Am Abend des 10. Novembers 1917 las Franz Kafka unter dem Titel „Tropische Münchhausiade“ seine noch unveröffentlichte Novelle „In der Strafkolonie“. Einer der anwesenden Zuhörer, Max Pulver (schweizerischer Schriftsteller und Graphologe, 1889 – 1952), schilderte diesen Abend und Franz Kafkas Lesung Jahrzehnte später in seinen Memoiren folgendermaßen

„[…] Wie er sprach habe ich vergessen. Mit den ersten Worten schien sich ein fader Blutgeruch auszubreiten, ein seltsam fader und blasser Geschmack legte sich mir auf die Lippen. Seine Stimme mochte entschuldigend klingen, aber messerscharf drangen seine Bilder in mich ein, Eisnadeln voller abgründiger Quälerei. Nicht nur wurden ein Marterwerkzeug und eine Marter beschrieben in den Worten gedämpfter Ekstase des Peinigers und Vollstrecker. Auch der Hörer wurde in diese Höllenqualen hineingerissen, auch er lag als Opfer auf dem wippenden Marterbett, und jedes Wort ritzte als neuer Stachel die langsame Hinrichtung in seinen Rücken.
Ein dumpfer Fall, Verwirrung im Saal, man trug eine ohnmächtige Dame hinaus. Die Schilderung ging inzwischen fort. Zweimal noch streckten seine Worte Ohnmächtige nieder. Die Reihen der Hörer und der Hörerinnen begannen sich zu lichten. Manche flohen im letzten Augenblick, bevor die Vision des Dichters sie überwältigte. […]“

(Max Pulver, „Erinnerungen an eine europäische Zeit“, Zürich 1953)

Die geschilderte Situation ist eine der am häufigsten zitierten Anekdoten aus dem Leben und Wirken von Franz Kafka, jedoch gehört sie in den Bereich der Legenden – leider sitzen jedoch zahlreiche Medien wie Webseiten (wie z.B. die Online-Lernplattform studysmarter.com) dieser Legende ungeprüft auf.

Die Lesung hat es in der Tat gegeben und er findet in der Presse wie den „Münchener Neueste Nachrichten“ am 11.11.1916, in der „Münchener Zeitung“ am 12.11.1916 und in „München-Augsburger Abendzeitung“ am 13.11.1916 eine kritisch Resonanz – in keinem dieser Artikel wird jedoch von Ohnmachten oder die Sitze verlassenden Zuhörer berichtet. Man kann sich auch nur schwer vorstellen, dass ein Autor seinen Text einfach weiterliest, während die Damen in Ohnmacht fallen und sich die Reichen lichten – und dennoch: auch wenn sich Max Pulver in seinen Erinnerungen irrt, so sind sie doch schön zu lesen.

(Quelle: Jürgen Born et al., Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912 – 1924, S.Fischer, 1979)