Eine Fabel soll, meist aus den Stimmen und Handlungen von Tieren, uns Lesern Moral und Lebensklugheit vermitteln, sie soll belehren, so dass man am Ende der kurzen Prosa zusammenfassen kann: „und die Moral der Geschichte ist…“. So weit so gut, bis wir Kafka lesen.

Kleine Fabel

„Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ – „Du mußt nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.

(Franz Kafka, aus dem Nachlass)

Welch Ironie. Die Lehre, die uns die Katze mitteilt, ist in sich stimmig und auch allgemeingültig, aber nicht für den Adressaten, die Maus. Für die Maus ist der Rat und die Moral nicht mehr annehmbar, auch wenn sie den Rat noch befolgen könnte, sie sitzt in der Falle: entweder Katze oder Mausefalle.

In diesem kleinen Text, einer der bekanntesten von Kafka, finden wir auf der einen Seite eine düstere, pessimistische Grundstimmung – die ist uns bei Kafka nicht fremd – und auf der anderen Seite die Ironie und der Humor. Auch wenn die Geschichte für die Maus nicht gut endet, so können wir uns das schadenfreudige Gesicht der Katze ganz gut vorstellen und müssen dabei vielleicht auch ein wenig schmunzeln.

Für die Maus gibt es keinen Ausweg, das weiß sie und beginnt ihre Ausführung mit der klagenden Interjektion „Ach“. Der hypotaktische Satzbau lädt zum schnellen Lesen ein und komprimiert dadurch Raum und Zeit. Der Gedanke der Maus über Weite und Enge ihrer Wege ist eine Metapher auf das Leben. Am Anfang liegt das ganze Leben noch vor uns, wir wissen gar nicht wohin wir uns entwickeln und mit der Zeit erscheint es immer enger, die alternativen Lebenswege schwinden. Am Ende ist es jedoch auch gleich, denn am Ende steht der Tod.