Zum Tod des Dichters

Heute wird eine mystische Hochzeit im Schoße der Natur gefeiert,
an der Quelle, aus der Leben und Tod brüderlich entspringen 
[…] 
Wasser, Feuer, Luft und alles Lebendige – alles Wachsende – alles Leblose,
freunden sich heute mit mir, der ich ein Fremder war bis heute, an, 
mit einem Ausdruck ungeahnter Zuneigung strecken sie mir ihre Hände entgegen und streicheln mich selig – und du bist unter ihnen!
Und Mutter Erde winkt mir liebevoll zu:
„Lasse den Schatten deiner Seele zwischen meinen Brüsten ruhen
und lege den Traum deiner Knochen in das Kissen meiner Sanftheit!“
– Und es ist mit deinem Leben gefüllt.

In dieser von mir und nur teilweise übersetzten Elegie „On the Death of the Poet“ (Quelle: https://www.sav.sk/journals/uploads/07071154WLS2_2022_sabatos.pdf) aus seiner Gedichtsammlung „Poems and Songs of Love“, die ursprünglich nur auf Hebräisch erschien und insgesamt 16 Gedichte enthält, besingt Georg Mordechai Langer 1929 zum fünften Todestag den Tod von Franz Kafka und befeuert damit etwa 85 Jahre später Spekulationen um die Homesexualität von Franz Kafka. Georg Mordechai … wer?

Georg Mordechai Langer war ein entfernter Verwandter von Max Brod und Franz Kafka lernte ihn 1915 über Max Brod kennen. Kafka nahm ab 1917, als er begann sich ernsthaft für Hebräisch zu interessieren, bei ihm Hebräisch-Stunden. Aus diesen Hebräischstunden entwickelte sich zwischen Kafka und Langer eine – heute würde man sagen lockere – Freundschaft.

Aber wie kam es zu den Spekulationen? In dem genannten Lyrikband „Poems and Songs of Love“ sind von 16 Gedichten insgesamt 12 Gedichte an einen unbekannten männlichen Adressaten gerichtet und die einzige Widmung in allen Gedichten gilt Franz Kafka in „On the Death of the Poet“. Da nun Georg Mordechai Langer homosexuell war, bietet das natürlich ausreichend Anlass für wilde Spekulationen u.a. von Kenneth Shermann im Table Magazine. Gerade im englischsprachigen Raum kann man mit einer entsprechenden Google-Suche zahlreiche weitere Spekulationen bis hin zu geradezu Verschwörungstheorien über „largely overlooked friendships“ Kafkas „entdecken“ – empfehlen würde ich es jedoch nicht, da man am Ende nicht klüger ist.

Aber lassen wir doch Langer – aus seinen Erinnerungen 1941 – selbst sprechen:

„Sehr geehrter Herausgeber, gerne habe ich Ihren Vorschlag, meine Erinnerungen an meinen verstorbenen Freund Franz Kafka aufzuschreiben, angenommen. Doch sobald ich zur Feder griff, um dies zu tun, wandelte sich meine Freude in Leid, und ich sann nach und suchte lange in meinen Erinnerungen. Trotz der vielen Jahre, die ich in seiner Nähe verbringen durfte, finde ich fast gar nichts, um ihren Durst und den Durst Ihrer Leser zu stillen und einige Informationen hinzuzufügen […] ich kann mich an kein konkretes Detail und an nichts Ungewöhnliches erinnern […]“

(Hans-Gerd Koch, Als Kafka mir entgegenkam, Berlin 2013, S. 135)

Langer schreibt weiter in seinen Erinnerungen viel über den originellen Menschen, über seine Hebräischstudien und mystische Erlebnisse nach Kafkas Tod – aber nichts lässt auf eine besondere oder innige Beziehung zwischen den beiden Männern schließen.
Auch in Kafkas Tagebüchern wird Langer nur in kurzen Notizen erwähnt, wie z.B. am 20.10.1917 „Nachmittag Langer, dann Max, liest Franzi vor“ oder am 25.07.1915: „Mit Langer: Er kann Maxens Buch erst in 13 Tagen lesen. Weihnachten hätte er es lesen können, da man nach einem alten Brauch Weihnachten nicht Tora lesen darf (ein Rabbi zerschnitt an diesem Abend immer das Closetpapier für das ganze Jahr) diesmal aber fiel Weihnachten auf Samstag. In 13 Tagen aber ist russische Weihnacht, da wird er lesen.“ Summa summarum: belanglos.

Aber wir wissen: „Sex sells“ und die sexuelle Orientierung von Dichtern und Dichterinnen ist immer ein beliebtes Thema – warum sonst hätte es dieser Beitrag zur Veröffentlichung geschafft? Zur Interpretation von Kafka Werk, zum seinem Verständnis oder zur Freude an der Lektüre hat sie jedoch absolut keinen Einfluss.