Am 27. Januar 1904 schreibt Franz Kafka im Alter von jungen 21 Jahren einen Brief an seinen damaligen engen Schulfreund Oskar Pollak, der eines der am häufigsten zitierten Ansichten Kafkas zur Literatur im Allgemeinen enthält:
„Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wäldern verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.„
(Franz Kafka, Briefe 1902 – 1924, Frankfurt 1975)
Fett hervorgehoben in dem obigen Zitat sind die Ausschnitte, die sehr häufig zitiert werden oder als „Motiv“ für literarische Postkarten und ähnlichem dienen. Kafka nimmt sich hier selbst vorweg, denn seine Werke treffen uns oft selbst wie ein Faustschlag auf den Schädel.
Was in diesen Zitaten verborgen bleibt, ist der Kontext, in dem Kafka seinem Schulfreund schreibt. Franz Kafka ist dem Freund seit vierzehn Tagen eine Briefantwort schuldig, doch er hatte bisher keine Muße zur Feder zu greifen, denn Kafka hatte „[…] Hebbels Tagebücher (an 1800 Seiten) in einem Zuge gelesen […]“. Es ist also nicht ein literarisches Werk, das selbst wie ein Faustschlag wirken kann, wie etwa Kleists Kohlhaas oder Goethes Werther, was ihn hier gerade beschäftigt, sondern Friedrich Hebbels Tagebücher aus den Jahren 1835 bis 1863.
Wenn man Hebbel und Kafka in Verbindung bringen möchte, lohnt sich ein Blick in Hebbels Verständnis vom Konflikt im klassischen Drama, so schrieb er 1843 in „Ein Wort über das Drama“: „Die dramatische Schuld [entspringt] nicht, wie die christliche Erbsünde, erst aus der Richtung des menschlichen Willens […], sondern unmittelbar aus dem Willen selbst, aus der starren, eigenmächtigen Ausdehnung des Ichs“. Wer diese Zeilen liest, kann sich problemlos einen Gregor Samsa vor das innere Augen holen, der stur, starr und eigenmächtig zu einem Ungeziefer mutiert und so eine Schuld auf sich lädt.
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