Franz Kafka verehrte die literarische Form der Legende und schrieb in einem Brief an Grete Bloch am 6. Juni 1914:

„Schließlich kann eine solche Arbeit wie die Legende erst am Ende eines Lebens gelingen, wenn man alle seine Kräfte entwickelt und bereit hat und es wagen kann sie über die ganze Strecke einer Arbeit hin bewußt zu zwingen, ohne daß man sich nach den ersten Schritten von dem größten Teil verlassen sieht.“

(Franz Kafka, Briefe 1914 – 1917, Frankfurt/Main, S.82)

Von Franz Kafka wurde zu Lebzeiten nur sehr wenig veröffentlicht, denn zu dem, was von ihm veröffentlicht werden sollte, hatte er immer eine ganz besondere Beziehung und war mit den Texten vollständig im Reinen, d.h. sie genügten seinen hohen Ansprüchen an die Literatur. Einer dieser wenigen Texte ist die Legende „Vor dem Gesetz„, die 1914 im Rahmen des Domkapitels aus „Der Process“ entstanden ist. Kafka hielt diesen Text für so gut, dass er ihn 1915 in der unabhängigen jüdischen Wochenzeitschrift „Selbstwehr“ publizieren ließ. Seine Zufriedenheit mit diesem Text äußerte er am 13. Dezember 1914 im Tagebuch:

„Statt zu arbeiten – ich habe nur eine Seite geschrieben (Exegese der Legende) – in fertigen Kapiteln gelesen und sie zum Teil gut befunden. Immer im Bewußtsein, daß jedes Zufriedenheits- und Glücksgefühl, wie ich es zum Beispiel besonders der Legende gegenüber habe, bezahlt werden muß, und zwar, um niemals Erholung zu gönnen, im nachhinein bezahlt werden muß.“

(Franz Kafka, Tagebücher 1910 – 1923, S. Fischer Verlag 1986, S. 326)

Der Inhalt ist schnell erzählt, denn der Text ist sehr kurz: Ein Türhüter hindert einen Mann eine Tür zu passieren und wird auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet. Der Mann wartet sein Leben lang auf Einlass und kurz vor seinem Tod erfährt er, dass niemand anders durch diese Tür gehen konnte, da diese Tür nur für ihn bestimmt war und nun geschlossen wird.
Auf YouTube findet sich ein Ausschnitt aus Orson Welles Verfilmung des Prozesses, der den Inhalt ebenfalls sehr gut wiedergibt:

Wieder so ein typischer Kafkatext, der den Leser verzweifeln oder sich schwarz ärgern lässt. Es trifft den Leser vermutlich schwerer als den Protagonisten selbst, der ja nun stirbt, dass diese Tür nur für ihn bestimmt war und nun geschlossen wird, denn der Leser bekommt den Eindruck, dass der Mann jederzeit durch die Tür hätte gehen können. In Kafka Lektüre liegt so manche „Gelegenheit zur Verzweiflung“.

Und auch mit diesem kleinem Text macht uns Kafka die Interpretation nicht einfach. Er ist vielfach zu interpretieren: theologisch, psychologisch, gesellschaftlich…

Die frühen Interpretation waren theologisch motiviert, auch hier setzte Max Brod in „Heidentum, Christentum, Judentum“ im Verlag Kurt Wolff 1921 „Kafka-Maßstäbe“: „Franz Kafkas Legende ‚Vor dem Gesetz‘, die übrigens ohne jede dogmatische Absicht entstanden ist, aus dem Unbewußt-Jüdischen des Dichters entstanden ist.“ und verweist damit auf die kabbalistische Deutung, die in den frühen Kafka-Rezeptionen im allgemeinen dominiert.

Kafka war aber auch Jurist und ein Satz wie „das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein“ war von Kafka vielleicht doch genauso wörtlich gemeint, wie es zum Beispiel Maximilian Bergengruen in seiner kurzen Studie zusammenfasst.

Eine der spannendsten Interpretation für mich ist jedoch eine psychologische: Tür und Türhüter sind nur für den Mann da, niemals kommt jemand anderes und damit kann beides auf die eigene Persönlichkeit des Mannes verweisen. Er steht sich selbst im Weg, er muss sich selbst auf dem Weg zum erfüllten Leben überwinden.

Am Ende muss isch aber jede Interpretation der Tatsache stellen, dass diese Geschichte einen Stachel im Leser und der Leserin hinterläßt, dass sie wenig geeignet ist, Trost oder Mut zu spenden.

Übrigens hat Hartmut Binder 2010 in seiner Studie „Kafkas Prag“ zurecht darauf aufmerksam gemacht, dass es zu Kafkas Lebzeiten in Prag viele Türsteher gab (z.B. an religiösen Einrichtungen, dem Parlament und vielen anderen öffentlichen Orten) und Kafka mag „[…] von den zahlreichen Prager Vertretern dieses Berufszweigs angeregt worden sein, die wegen ihrer auffälligen Tracht die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen erregten […]“ (Hartmut Binder, „Auf Kafkas Spuren“, Göttingen 2023, Seite 10). Das Beitragsbild wurde auch dieser Binder-Studie entnommen.