„Bin ich nicht Steuermann?“ rief ich. „Du?“ fragte ein dunkler hochgewachsener Mann und strich sich mit der Hand über die Augen als verscheuche er einen Traum. Ich war gestanden am Steuer in der dunklen Nacht, die schwachbrennende Laterne über meinem Kopf und nun war dieser Mann gekommen und wollte mich beiseite schieben. Und da ich nicht wich, setzte er mir den Fuß auf die Brust und trat mich langsam nieder, während ich noch immer an den Naben des Steuerrads hing und beim Niederfallen es ganz herumriß. Da aber faßte es der Mann, brachte es in Ordnung, mich aber stieß er weg. Doch ich besann mich bald, lief zu der Luke, die in den Mannschaftsraum führte und rief: „Mannschaft! Kameraden! Kommt schnell! Ein Fremder hat mich vom Steuer vertrieben!“ Langsam kamen sie, stiegen auf aus der Schiffstreppe, schwankende müde mächtige Gestalten. „Bin ich der Steuermann?“ fragte ich. Sie nickten, aber Blicke hatten sie nur für den Fremden, im Halbkreis standen sie um ihn herum und als er befehlend sagte: „Stört mich nicht“, sammelten sie sich, nickten mir zu und zogen wieder die Schiffstreppe hinab. Was ist das für Volk! Denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde?
(Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, S. 324, Frankfurt/Main 2002)
Der obige im Original unbetitelte Text aus dem Nachlass Kafkas ist Ende 1920 entstanden und schildert, wie so oft in Kafkas Werken, eine Situation, in der ein Mensch ganz plötzlich alleine gelassen wird. Dieses Motiv der Verstoßung aus der Gesellschaft findet sich auch im Prozess, im Urteil, in der Verwandlung, im Hungerkünstler, im Verschollenen und an vielen anderen Stellen wieder.
Diese Geschichte ist auf zwei Weisen zu interpretieren: zum einen gesellschaftlich und psychologisch, dass dem modernen Menschen bewusst werden muss, dass er jederzeit und ohne großen Widerstand ersetzbar ist und zum anderen politisch, dass die Masse (hier die Seeleute) blind und sinnlos durch das Leben wandern und ihre Führung unkritisch jedem beliebigen überlassen.
Auch dieser Text kann in seiner prägnanten Kürze einmal mehr aufzeigen, wie modern Franz Kafka auch heute noch ist.
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