Franz Kafka wird häufig als der meistgelesene deutschsprachige Autor genannt. Dies wird oft aus dem Kafka-Handbuch von Manfred Engel und Bernd Auerochs (J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 20210) zitiert, welches mit genau dieser Behauptung beginnt: „Kafka ist ohne Zweifel der heute weltweit meistgelesene Autor deutscher Sprache – und sicher der meist umrätselte“. Und so ist es auch im Wikipedia-Eintrag zu Franz Kafka zu lesen. Aber stimmt dies denn auch? Und wie werden solche Zahlen ermittelt?

Ein Weg, den meistgelesenen deutschsprachigen Autor zu bestimmen, ist die Anzahl seiner Übersetzungen zu ermitteln. Hierfür gibt es im Index Translationum – einer Website der UNESCO – eine Quelle. Demnach findet sich Kafka allerdings erst auf Platz acht der meistübersetzten deutschsprachigen Schriftsteller nach Marx & Engels, den Gebrüdern Grimm, Goethe, Brecht und Hesse. Ein ausführlichen Bericht, wie diese Auswertung zustande kommt, findet sich unter Rangliste der international bekanntesten deutschsprachigen Autoren. Ob man dieser Website allerdings sein volles und unkritisches Vertrauen schenken darf, sei dahin gestellt. Die „Studie“ liefert interessante Indizien, aber es ist recht auffällig, dass zum Beispiel Karl May in dieser Liste fehlt. Ob wir Karl May und seine oft triviale (aber dennoch unterhaltsame) Literatur mögen, spielt hier keine Rolle. Wir müssen einfach anerkennen, dass er einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren ist und in mindestens 44 Sprachen übersetzt wurde (Quelle: Karl-May-Wiki und Karl May Freundeskreis Freiburg).

Ein zweiter Weg wäre die weltweite Gesamtauflage zu ermitteln. Es gibt solche Statistiken und demnach ist William Shakespeare weltweit mit über 4 Milliarden Büchern der auflagenstärkste und – je nach Interpretation – der weltweit meistgelesene Autor überhaupt. Für den deutschsprachigen Raum gibt es meines Wissens eine solche Statistik – die auch bitte auf seriösen Quellen basieren soll – leider bisher nicht. Vielleicht ist dies auch besser so, denn sie würde vermutlich lediglich zu Tage bringen, dass Sebastian Fitzek weitaus öfter gedruckt und gelesen wird als Franz Kafka – Dinge, die wir schon ahnen. Dies ist recht wahrscheinlich und kann ungeprüft so stehen bleiben, trotzdem will ich es nicht schwarz auf weiß nach Hause tragen.

Beide Wege geben uns ohnehin keine Auskunft darüber, ob das Buch und der Autor auch tatsächlich gelesen wurde, sondern liefern uns nur nackte Zahlen zu Übersetzungen und Drucken. Ein Indiz für die Lektürehäufigkeit und auch die Bedeutung eines Autors erhalten wir vielleicht über die Recherche zu Sekundärliteratur. Je mehr Werke es zu einem Autor gibt, so können wir annehmen, desto größer ist auch seine Bedeutung, die Faszination, die von ihm ausgeht und vermutlich auch seine Lektüre.

Leider habe ich keinen Einblick in die Standardbibliographie von Maria Luise Caputo-Mayr und Julius Michael Herz „Franz Kafka, Internationale Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur“, publiziert in München 2000 und außerdem hat die Forschung in den vergangen 23 Jahren weitere Publikationen hervorgebracht, so dass ich für eine Schätzung nur Google befragen kann. Eine Suche auf google.com am 01.01.2024 ergab folgende Treffer:

SuchbegriffTreffer
franz + kafka + secondary + literature1.380.000
karl + may + secondary + literature59.900.000
georg + büchner + secondary + literature989.000
heinrich + kleist + secondary + literature1.600.000
johann + goethe + secondary + literature12.000.000

Aber auch dieses Ergebnis hilft uns nicht wirklich weiter, liefert nur Ansätze. Es macht sicherlich kaum Sinn die Sekundärliteratur von May oder auch Goethe mit der zu Kafka zu vergleichen, da diese Autoren ungleich viel mehr geschrieben haben, da ist der Vergleich mit Büchner oder Kleist schon realistischer.

Eine abschließende Aussage läßt sich vermutlich gar nicht so leicht treffen. Kafka als meistgelesener deutscher Autor wird zwar häufig so genannt, belegen lässt es sich aber in der Tat nicht.