Archive: Januar 2, 2024

Ein Gott als Beamter

Poseidon

„Poseidon saß an seinem Arbeitstisch und rechnete. Die Verwaltung aller Gewässer gab ihm unendliche Arbeit. Er hätte Hilfskräfte haben können, wie viel er wollte, und er hatte auch sehr viele, aber da er sein Amt sehr ernst nahm, rechnete er alles noch einmal durch und so halfen ihm die Hilfskräfte wenig. Man kann nicht sagen, daß ihn die Arbeit freute, er führte sie eigentlich nur aus, weil sie ihm auferlegt war, ja er hatte sich schon oft um fröhlichere Arbeit, wie er sich ausdrückte, beworben, aber immer, wenn man ihm dann verschiedene Vorschläge machte, zeigte es sich, daß ihm doch nichts so zusagte, wie sein bisheriges Amt. Es war auch sehr schwer, etwas anderes für ihn zu finden. Man konnte ihm doch unmöglich etwa ein bestimmtes Meer zuweisen; abgesehen davon, daß auch hier die rechnerische Arbeit nicht kleiner, sondern nur kleinlicher war, konnte der große Poseidon doch immer nur eine beherrschende Stellung bekommen. Und bot man ihm eine Stellung außerhalb des Wassers an, wurde ihm schon von der Vorstellung übel, sein göttlicher Atem geriet in Unordnung, sein eherner Brustkorb schwankte. Übrigens nahm man seine Beschwerden nicht eigentlich ernst; wenn ein Mächtiger quält, muß man ihm auch in der aussichtslosesten Angelegenheit scheinbar nachzugeben versuchen; an eine wirkliche Enthebung Poseidons von seinem Amt dachte niemand, seit Urbeginn war er zum Gott der Meere bestimmt worden und dabei mußte es bleiben.
Am meisten ärgerte er sich — und dies verursachte hauptsächlich seine Unzufriedenheit mit dem Amt — wenn er von den Vorstellungen hörte, die man sich von ihm machte, wie er etwa immerfort mit dem Dreizack durch die Fluten kutschiere. Unterdessen saß er hier in der Tiefe des Weltmeeres und rechnete ununterbrochen, hie und da eine Reise zu Jupiter war die einzige Unterbrechung der Eintönigkeit, eine Reise übrigens, von der er meistens wütend zurückkehrte. So hatte er die Meere kaum gesehn, nur flüchtig beim eiligen Aufstieg zum Olymp, und niemals wirklich durchfahren. Er pflegte zu sagen, er warte damit bis zum Weltuntergang, dann werde sich wohl noch ein stiller Augenblick ergeben, wo er knapp vor dem Ende nach Durchsicht der letzten Rechnung noch schnell eine kleine Rundfahrt werde machen können.“

(Franz Kafka, Beschreibung eines Kampfes, S. Fischer Verlag, 1986)

Poseidon ist ein ganz typischer Kafka-Text, geschrieben um 1920 und erst im Nachlass von Max Brod veröffentlicht. Es gibt weder konkreten Ort noch Zeit, ein Gott wird zu einem gewissenhaften Beamten, der sich und seiner Arbeit vollkommen entfremdet ist, denn was gibt es in den oder mit den Meeren zu rechnen und warum hat der Gott der Meere, diese niemals kennengelernt, niemals durchfahren? Der Gott wird zu einem austauschbaren Mitarbeiter, der jeden Kontakt zu sich selbst in und mit der Außenwelt verliert, das Meer wird zum Symbol der Unbeherrschbarkeit, eine sinnlos scheinende mathematische Erfassung der Meere wird zum Sinnbild der entfremdeten Bürokratie und vielleicht kehrt sich die die Geschichte auch hier um. Vielleicht geht es genau darum: der Mensch selbst muss dem Ganzen einen Sinn geben, auch wenn es nur die verrückt erscheinende Rechenarbeit mit den Meeren ist.

In dieser Lesart kann man sich fragen, ob Albert Camus diesen kurzen Text von Kafka kannte, als der den Mythos des Sisyphos schrieb?


Angst vor dem Telephon

Franz Kafka hatte tatsächlich Angst vor dem Telefon und hatte eine tiefe Abneigung gegen das telefonieren, deswegen konnte er sich gut vorstellen, dass das Telefonieren von einer Maschine übernommen werden sollte. Eine hierfür geeignete Maschine war in seinen Augen der „Parlograph“, der frühe Vorläufer des heutigen Diktiergerätes und so schrieb Franz Kafka am 22. Januar 1913 an Felice Bauer, die in Berlin für die Carl Lindström AG arbeitete – jene Firma, die den „deutschen“ Parlographen entwickelte und vertrieb. In diesem Brief lässt er seiner humorvollen Phantasie freien Lauf:

„[…] Es wird eine Verbindung zwischen dem Telephon und dem Parlographen erfunden, was doch wirklich nicht so schwer sein kann. Gewiß meldest Du mir schon übermorgen, daß es gelungen ist. […] Eine Verbindung zwischen Grammophon und Telephon hätte ja auch keine so grpoße allgemeine Bedeutung, nur für Leute, die, wie ich, vor dem Telephon Angst haben, wäre es eine Erleichterung. Allerdings haben Leute wie ich auch vor dem Grammophon Angst, und es ist ihnen überhaupt nicht zu helfen. Übrigens ist die Vorstellung ganz hübsch, daß in Berlin ein Parlograph zum Telephon geht und in Prag ein Grammophon, und diese zwei eine kleine Unterhaltung miteinander führen. Aber Liebste, die Verbindung zwischen Parlograph und Telephon muß unbedingt erfunden werden. […]“

(Brief an Felice Bauer vom 22.01.1913 aus Franz Kafka, Briefe an Felice, Frankfurt 1976)


Todestag Jürgen Born jährt sich am 22.01.

Morgen vor einem Jahr, am 22. Januar 2023 ist Jürgen Born im Alter von 95 Jahren gestorben und mit diesem Artikel soll an einen der bedeutendsten deutschen Kafka-Forscher erinnert werden. Jürgen Born wurde 1928 in Danzig geboren, war Germanist und Philologe und hat sich über 50 Jahre eingehend mit dem Werk von Franz Kafka beschäftigt. Jürgen Born hat zahlreiche Fakten zusammengetragen und geholfen, ein detailliertes Bild von Franz Kafka, seinem Leben, seinem Werk und dessen Wirkung zu erhalten. Wir verdanken Jürgen Born die „Forschungsstelle Prager deutscher Literatur“ an der Universität Wuppertal und der Erhalt der Bibliothek von Franz Kafka.

Jürgen Born war Herausgeber u.a. der folgenden Werke:

  • Kafkas Bibliothek. Ein beschreibendes Verzeichnis, S. Fischer Verlag 1990
  • Franz Kafka. Briefe an Felice, S. Fischer Verlag 1976
  • Franz Kafka. Briefe an Milena, S. Fischer Verlag 1986
  • Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912-1924, S. Fischer Verlag 1979
  • Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924-138, S. Fischer Verlag 1983

Außerdem war Jürgen Born der Mitherausgeber der Kritischen Ausgabe von Franz Kafkas Werken und Tagebüchern.


Zürauer Aphorismus 2

„Alle menschlichen Fehler sind Ungeduld, ein vorzeitiges Abbrechen des Methodischen, ein scheinbares Einpfählen der scheinbaren Sache.“

(Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, S.Fischer Verlag 1986)

Nach seiner Diagnose der Tuberkulose im August 1917 verbrachte Franz Kafka fast acht Monate vom 12.09.1917 bis 30.04.1918 in Zürau bei seiner Schwester Ottla zur Erholung. In dieser Zeit schrieb er nur sehr wenige fiktionale Texte und auch kaum Tagebuch. Er verfasste jedoch in zwei Oktavheften einiges an Kurzprosa und 109 Kurztexte auf abgerissenen Zetteln, die oftmals unter „Zürauer Aphorismen“ zusammengefasst werden.


Zürauer Aphorismus 1

„Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sonder knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden.“

(Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, S.Fischer Verlag 1986)

Nach seiner Diagnose der Tuberkulose im August 1917 verbrachte Franz Kafka fast acht Monate vom 12.09.1917 bis 30.04.1918 in Zürau bei seiner Schwester Ottla zur Erholung. In dieser Zeit schrieb er nur sehr wenige fiktionale Texte und auch kaum Tagebuch. Er verfasste jedoch in zwei Oktavheften einiges an Kurzprosa und 109 Kurztexte auf abgerissenen Zetteln, die oftmals unter „Zürauer Aphorismen“ zusammengefasst werden.


Widerwillen vor „Verwandlung“

„19. I 14 Angst im Bureau abwechseln mit Selbstbewußtsein. Sonst zuversichtlicher. Großer Widerwillen vor „Verwandlung“. Unlesbares Ende. Unvollkommen fast bis in den Grund. Es wäre viel besser geworden, wenn ich damals nicht durch die Geschäftsreise gestört wurden wäre.“

(Franz Kafka, Tagebücher, Frankfurt/Main 2002)

Vor hundertundzehn Jahren war dies der letzte Tagebucheintrag von Kafka zur Erzählung „Die Verwandlung“ bevor er sie Ende Januar an Franz Blei zur Veröffentlichung sendete. Er quälte sich mit der Geschichte und deren Abschrift aus seinen Oktavheften in ein Manuskript, seit dem Kurt Wolff in im März 1913 um das Manuskript gebeten hatte.

Franz Kafka hatte mit der Niederschrift der Verwandlung am 17. November 1912 begonnen, wie er in einem Brief am selben Tag an Felice Bauer mitteilte:

„Ich werde Dir übrigens heute wohl noch schreiben, wenn ich auch noch heute viel herumlaufen muß und eine kleine Geschichte niederschreiben werde, die mir in dem Jammer im Bett eingefallen ist und mich innerlichst bedrängt.“

(Brief an Felice Bauer vom 17. November 1912)

Und einen Tag später schreibt er wieder an Felice:

„Gerade setzte ich mich zu meiner gestrigen Geschichte, mit einem unbegrenzten Verlangen, mich in sie auszugießen, deutlich von aller Trostlosigkeit aufgestachelt.“

(Brief an Felice Bauer vom 18. November 1912)

Er schloss die Erzählung am 6. Dezember 1912 unzufrieden ab. Die Unterbrechung vor der Kafka im Tagebuch schreibt, war lediglich eine eintägige Dienstreise am 26. November nach Kratzau.

„Liebste, also höre, meine kleine Geschichte ist beendet, nur macht mich der heutige Schluß gar nicht froh, er hätte schon besser sein dürfen, das ist kein Zweifel.“

(Brief an Felice vom 6. Dezember 1912

Heute zählt „Die Verwandlung“ zu den am häufigsten und am kontroversesten gedeuteten Werken von Franz Kafka, wird in der Schule gelesen, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und sie schafft es vermutlich problemlos in jedes Ranking der Top Ten von Kafkas Werken. Kafka selbst war nicht zufrieden mit der Geschichte, denn er glaubte, dass er diese Geschichte „höchstens mit einer Unterbrechung in zweimal 10 Stunden niederschreiben“ hätte müssen (Brief an Felice Bauer vom 24./25.11.1912) und er nun nur das bestmögliche draus machen könne, aber wenn man sich die Handschriften von Kafka hier anschaut, tut er sich selbst Unrecht. Er hat die Handlung chronologisch aufgezeichnet und es gibt nur wenige Korrekturen während des Schreibens. Er hat also keineswegs mit der Geschichte gehadert oder musste aufgrund der langen Schreibdauer immer wieder neu ansetzen oder korrigieren. Ganz im Gegenteil scheint auch die Verwandlung – ähnlich wie „Das Urteil“ aus einem Guss zu sein.


Kafka „in seiner schleimigen Bosheit“

Am 18. Januar 1914 schreibt Ernst Weiß in der National-Zeitung in Berlin eine kurze, aber sehr wohlwollende Rezension zu Kafkas „Der Heizer“, der wenige Monate vorher im „Jüngsten Tag“ erschienen ist.

„Der Verlag Kurt Wolff in Leipzig gibt eine Sammlung kleinerer Schriften heraus, die den Titel „Der jüngste Tag“ führt […] Zwei von diesen schmalen Büchern scheinen mir besonders wert, beachtet, nein, gelesen, nein, auch(!) gekauft zu werden. Zwei Namen stehen da, die jetzt noch keinen Schatten werfen, lautlos dastehen, aber doch den Klang künftiger Schönheit und Bedeutung vorausahnen lassen: Franz Kafka und Carl Ehrenstein.
Franz Kafka Buch heißt: ‚Der Heizer, ein Fragment‘. Es ist nicht mehr als das erste Kapitel eines ersten Romans.
Aber über fünfzig Seiten leigt eine Glut, eine sommerliche Fülle sondergleichen. Nichts ist nebensächlich, kein Satz, kaum ein Wort steht im Schatten. Dieses Fragment, an dem nichts Problematisches mehr haftet, zeigt eine ungewöhnliche epische Kraft […]
nach dieser Probe, nach diesem ersten Kapitel erwarten wir den ganzen Roman. Es wird der Roman eines Mannes, das Werk eines Dichters sein.“

(Jürgen Born et al., „Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912 – 1924, Fischer-Verlag)

Ernst Weiß und Franz Kafka haben sich im Sommer 1913 kennengelernt, schrieben sich Briefe, zollten einander als Schriftstellerkollegen Respekt, haben sich hin und wieder auch persönlich getroffen, jedoch kam es im Jahr 1916 zum Bruch zwischen den beiden Männern. Ernst Weiß hatte gerade seinen zweiten Roman „Der Kampf“ veröffentlich und forderte seinen Freund auf, ihm eine positive Rezension zu schreiben, doch Franz Kafka schlug diese Bitte aus. Daraufhin beklagte sich Ernst Weiß in Briefen an seine Geliebte Rahel Sanzara über den „bösen Pharisäer“ Kafka und weiter „Kafka wird, je länger ich von ihm entfernt bin, desto unsympathischer mit seiner schleimigen Bosheit“.

Weiß tut Kafka hier Unrecht, den Kafka befand sich in einer Phase, in der er nichts schrieb – und Kafka war konsequent. Wenn er nicht für sich selbst schreiben konnte, dann schrieb er auch nicht für andere. Dabei hatte er den Roman „Der Kampf“ tatsächlich auch gelesen, er fand sich selber in dem Roman wieder und hat ihn auch zur Lektüre an Felice Bauer weiterempfohlen. Und dennoch, er hielt an seinem Prinzip fest: er schrieb weder für sich noch für andere. Die Ausnahme in dieser Zeit sind lediglich Briefe und sein Tagebuch.

(Rainer Stach, Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, Frankfurt/Main 2008, S.101ff)


Kafkas Hund

„Alles Wissen, die Gesamtheit aller Fragen und alle Antworten sind im Hund enthalten.“

(Franz Kafka, Aus den Forschungen eines Hundes)

Der junge, hübsch anzuschauende Franz Kafka, schick mit Melone gekleidet. So wie in der oben abgebildeten Photographie, die um 1906 oder 1908 entstanden sein muss (Wagenbach, S. 61), stellen sich viele Franz Kafka in jungen Jahren vor, zumal das Bild auch heute noch eine große Verbreitung findet.

Die Zeit nutzte es in einem Essay von Maxim Biller über Kafka, es ist auf Verlagswebseiten zu finden, wie z.B. im Diogenes Verlag, es ziert Buchumschläge wie „Franz Kafka. Träumer und Rebell“ von Michael Löwy, ist Vorlage für Bilder, Zeichnungen und Videofilme, wie z.B. auf Planet Schule und sucht man bei Google nach Kafka-Bildern wird man noch zahlreiche weitere Verwendungen dieses Photos finden. Was jedoch die wenigsten wissen ist, dass es sich bei diesem Bild lediglich um einen kleinen Bildausschnitt handelt. Das vollständige Bild zeigt Franz Kafka mit Hund und der Kellnerin Hansi Julianne Szokoll, die Kafka aus einer Prager Weinstube kannte:

Quelle: Klaus Wagenbach, Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben, Berlin 2008

Nun, wer ist dieser Hund und ist es vielleicht sogar Kafkas eigener Hund? Im gesamten Tagebuch gibt es nur einen Hinweis auf einen Hund, denn am 27. Juli 1922 notiert Kafka in seinem Tagebuch: „[…] Gestern Abendspaziergang mit dem Hund. […]“ Allerdings ist nicht klar, mit wessen Hund er hier spazieren geht und es werden auch sonst keine weiteren Details über den Spaziergang oder seinen vierbeinigen Begleiter bekannt. Kafka befindet sich zu dieser Zeit zur „Sommerfrische“ bei seiner Lieblingsschwester Ottla und möglicherweise ist es ihr Hund, der hier erwähnt wird.

Doch gehen wir wieder ein paar Jahre zurück in die Nähe der Entstehung der obigen Photographie. Am 28. August 1904 schreibt Franz Kafka in einem Brief an Max Brod:

„Bei einem Spaziergang ertappte mein Hund einen Maulwurf, der über die Straße laufen wollte. Er sprang immer wieder auf ihn und ließ ihn dann wieder los, denn er ist noch jung und furchtsam.“

(Franz Kafka, Briefe 1900 – 1912, Frankfurt/Main 1999)

Hier schreibt Franz Kafka tatsächlich von seinem Hund und schildert ihn als „jung und furchtsam“ – die Photographie könnte also tatsächlich den, dann bereits etwas älteren, Hund von Franz Kafka zeigen. Auch in den Zürauern Zettel kann man einen Hinweis auf einen Hund in der Kindheit finden. Hier böte sich also Stoff für ambitionierte Kafka-Biographen und einer „Forschung über Kafkas Hund“ – ich mag es überlesen haben, aber ich finde für Kafkas Hund keine Belege bei Wagenbach, Alt, Stach und Co.

Am Ende dieses Artikels ankommend, mag sich der Leser fragen „Was ist den eigentlich mit Hansi Julianne Szokoll?“ Nun auch darauf soll es eine kurze Antwort geben. Kafkas – sagen wir mal neurotisches – Verhältnis zu Frauen ist bekannt und wird auf diesen Seiten auch noch behandelt werden müssen und auch zu der Kellnerin hatte Kafka eine sehr kurze und überaus unglückliche Romanze, von der Max Brod in seinen Erinnerungen berichtet:

„Ich erinnere an seine Leidenschaft zu einer Weinstubenkellnerin namens Hansi, von der er einmal sagte, ganze Kavallerieregimenter seien über ihren Leib geritten. Franz war in dieser Liaison sehr unglücklich.“


Kafkas „Wahrheit“

Unter dem Titel „Wahrheit ist unteilbar“ erscheint am 20. März 2024 im Reclamverlag eine Ausgabe der Aphorismen von Franz Kafka, die meisten von ihnen entstanden zwischen 1916 und 1917 während seines Aufenthaltes in Zürau. Der Titel ist entnommen aus dem Zürauer Aphorismus „Wahrheit ist unteilbar, kann sich also selbst nicht erkennen; wer sie erkennen will, muß Lüge sein.“

Leider wird Franz Kafka immer wieder auf dieser Sockel des „einzig wahren schönen“ gehoben, wo er sich selbst vermutlich nicht gesehen hätte, da er doch lieber unauffällig blieb. Vielleicht hat auch Max Brod hierzu seinen Teil beigetragen, da er immer wieder einen allgemeinen „Drang zur Wahrheit“ von Franz Kafka herausbeschwor und ihn somit auch zu einem Propheten verklärte, so sagte er noch in einem seiner letzten Gespräche mit Georg Stadtler 1968:

„Letzten Endes möchte ich sagen, war er ein strenger Moralist, ein Lehrer, er lehrte nicht durch abstrakte Dogmen, sondern durch sein ganzes ausschließlich auf Aufrichtigkeit und Wahrheit und Natürlichkeit gerichtetes Sein.“

(Max Brod in einem Gespräch 1968)

Auch Alois Prinz hat in seiner durchaus lesenswerten Franz Kafka Biografie „Auf der Schwelle zum Glück“, die am 15.01.2024 in einer unveränderten Neuauflage im insel taschenbuch erschien, diesen verklärten Blick:

„[…] Das gilt auch für Kafkas Leben. Obwohl es an äußeren Ereignissen arm war, hatte es doch eine innere Wahrheit, die man ebenfalls nicht allgemein feststellen kann, sondern die jeder, der dieser Leben betrachtet, für sich anerkennen oder leugnen muss. Diese Wahrheit steht nicht in großen Buchstaben über seinem Leben, sondern versteckt es sich im unspektakulären Alltag des Prager Versicherungsangestellten […]“

(Alois Prinz, „Auf der Schwelle zum Glück„, Berlin 2024)

Franz Kafka ist weder Prophet noch Besitzer einer wie auch immer gestalteten Wahrheit, er ist ein Dichter, dem der geneigte Leser in seinen eigenen Interpretationen und Gedanken wahre Aussagen zueignen mag.


Zur Demenz in Kafkas „Das Urteil“

Vater und Sohn haben sich auseinandergelebt, der Vater misstraut seinem Sohn und nach einem kurzen Streit fällt der Vater ein Todesurteil über seinen Sohn, was dieser reglos hinnimmt und sich in den Fluss stürzt. Dies ist die kurze Zusammenfassung von Franz Kafka „Das Urteil“, einem der am häufigsten untersuchten und interpretierten, weil auch widersprüchlichsten Erzählung von Kafka.

Denn wer ist eigentlich der alte, der hier ein Todesurteil spricht. Der Sohn muss seinen Vater vom Sessel in das Bett tragen, er muss ihn aus- und umziehen und er trägt ihn wie ein kleines Kind.

„Es schien ja fast, wenn man genauer zusah, daß die Pflege, die dort dem Vater bereitet werden sollte, zu spät komme.
Auf seinen Armen trug er den Vater ins Bett. Ein schreckliches Gefühl hatte er, als er während der paar Schritte zum Bett hin merkte, daß an seiner Brust der Vater mit seiner Uhrkette spielte.“

Es gibt nicht viele Untersuchungen zum Thema Demenz in Kafkas Werk. Hier ist die Bachelorarbeit von Kirsti Ferch, „War Georg Bendemanns Vater dement?“ an der Linnéuniversität in Kalmar Vaxjö, Schweden eine lesens- und beachtenswerte Ausnahme.

Weder aus Kafkas Werk, noch seinem persönlichen Umfeld oder seiner Biografie lässt sich eine Erfahrung oder Auseinandersetzung mit der Altersdemenz belegen. Der Begriff und das Phänomen war allerdings auch schon zu Kafkas Lebzeiten bekannt.

Wer selber Erfahrung mit Demenz im persönlichen Umfeld hat, insbesondere wenn es die eigenen Eltern betrifft, so kann man kaum umhin, den Vater in „Das Urteil“ voreingenommen zu betrachten, denn es gibt so viele Parallelen zu beobachten: wie das Leben durch den Verlust eines Partners durcheinander gerät, vielleicht die Demenz auch erst sichtbar wird, da sie nicht mehr vom Partner kompensiert wird, die Pflegebedürftigkeit, das Schwanken zwischen unbändiger Wut und kindlicher Unschuld, das Misstrauen und vieles mehr.