Die Frage mag zunächst seltsam anmuten, denn Kafka war in jedem Fall Jude und dennoch muss sie gestellt werden, denn um diese Frage entbrennen immer wieder Diskussionen, Interpretationen, Streitgespräche bis hin zu juristischen Verfahren, in denen der Staat Israel allen Nachlass und alle Manuskripte des Juden Franz Kafka für sich in Anspruch nimmt. Hinter der Frage steckt also auch die Frage „Wem gehört Kafka?“
Aber wie kommt es dazu, so eine Frage zu stellen. Niemand käme auf die Idee zu fragen, wem Goethe gehöre – über den grundsätzlichen Sinn und Zweck dieser Frage soll hier nicht gesprochen werden – und die Antwort lautet unisono: Goethe als deutscher Dichter der Weimarer Klassik gehört zum europäischen und besonders zum deutschen Kulturgut. Bei Goethe ließen sich alle Detailfragen exakt beantworten. Bei Kafka sieht es hingegen ganz anders aus.
Franz Kafka wurde als Jude in eine deutschsprachige Minderheit im tschechischen Prag, zugehörig zur k.u.k Monarchie, also Österreich und Ungarn, hingeboren und dadurch sehen ihn manche als deutschen, andere als österreichischen, einige als jüdischen, wieder andere als deutschsprachig europäischen und ganz wenige sogar als tschechischen Dichter. Eine Zuordnung fällt also gar nicht so einfach. Vielleicht ist sie aber auch gar nicht notwendig, wenn wir Kafka so interpretieren, dass er selber ein Leben lang auf der Suche nach Zugehörigkeit war. Die schon besprochene Sichtweise von Walther Ziegler wurde hier bereits erwähnt.
Die Familie Kafka gehörte zu den assimilierten Juden, die Bar Mizwa von Franz Kafka wurde als „Konfirmation“ angekündigt, in seinen Werken selber thematisiert Kafka das Judentum kein einziges Mal, in seinen Tagebüchern und seinen Briefen hingegen ist sein Leben als Jude und seine eigene Stellung zum Judentum jedoch omnipräsent, auch mit vielen Zweifeln und mit ebenso vielen Versuchen, Teil der jüdischen Gemeinschaft zu werden – zum Beispiel durch sein Interesse am Zionismus. Wenn es Franz Kafka auch an einem religiösen Judentum fehlt, so ist er doch Teil der jüdischen Gemeinschaft – dies spiegelt sich auch in seinen Freundeskreisen wieder, die tatsächlich zum überwiegend größten Teil aus Juden bestand.