Ein Autor wird zum Adjektiv – kafkaesk

Nur wenigen Autoren wird die Ehre zuteil, dass aus ihrem Namen ein Adjektiv gebildet wird: kafkaesk.

Wenngleich auch noch im Duden als Teildefinition „in der Art Kafkas“ zu finden ist, so ist dies nicht als die eigentlich Bedeutung des Wortes zu betrachten. Kafkaesk ist die unheimliche, lakonische geschilderte Bedrohung der man nicht ausweichen kann, ein Unheil, das hingenommen werden muss, eine grotesk-absurde Situation, die selbstverständlich erscheint. Ein gutes und vermutlich das berühmteste Beispiel ist der Anfangssatz aus dem Prozess – vielleicht einem der berühmtesten Sätze der Weltliteratur im 20. Jahrhundert überhaupt:

„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“

(Franz Kafka, Der Prozess)

Neben Kafka ist es der griechische Dichter Homer, der im Adjektiv „homerisch“ verewigt und der italienische Dichter Dante, der in „dantesk“ heute noch gewürdigt wird. Das homerische Gelächter ist das schallende Gelächter der Götter, das Homer zum Beispiel in der Ilias I, 599 als „unermeßlich Lachen erscholl den seligen Göttern“ oder in der Odyssee VIII, 325 als „ein langes Gelächter erscholl bei den seligen Göttern“ beschreibt. Dantesk beschreibt etwas Leidenschaftliches, Erschreckendes oder auch Gewalttätiges, doch seien wir ehrlich: homerisch und dantesk werden hier nur der bildungssprachlichen Vollständigkeit wegen genannt. In der freien Wildbahn der gesprochenen und geschriebenen Sprache sind sie so selten anzufinden wie der Yeti im Himalaja.

Anderen großen Dichter wie Goethe, Shakespeare, Heine oder Rilke wurde diese Ehre nicht zuteil, aber sie werden es wohl verschmerzen können.

Kafkaesk hingegen wird schon beinah inflationär verwendet, so dass wir gut beraten sind, all jenen zu mißtrauen, die das Wort allzu leichtfertig gebrauchen und schon jeden Behördengang als kafkaesk empfinden. Wenn kafkaesk als Modewort oder Ausdruck einer vermeintlichen Bildung verwendet wird, verstellt es nur den Blick auf Autor und Werk.


Sie haben mich unglücklich gemacht

Am 10. April 1917 schreibt Dr. Siegfried Wolff, ein Berliner Leser der Verwandlung, hilfesuchend an Franz Kafka:

Sehr geehrter Herr,
Sie haben mich unglücklich gemacht.
Ich habe Ihre Verwandlung gekauft und meiner Kusine geschenkt. Die weiß sich die Geschichte aber nicht zu erklären.
Meine Kusine hats ihrer Mutter gegeben, die weiß auch keine Erklärung. Die Mutter hat das Buch meiner andern Kusine gegeben und die hat auch keine Erklärung. Nun haben sie an mich geschrieben. Ich soll ihnen die Geschichte erklären. Weil ich der Doctor der Familie wäre. Aber ich bin ratlos.
Herr! Ich habe Monate hindurch im Schützengraben mich mit dem Russen herumgehauen und nicht mit der Wimper gezuckt. Wenn aber mein Renommee bei meine Kusinen zum Teufel ginge, das ertrüge ich nicht.
Nur Sie können mir helfen. Sie müssen es; denn sie haben mir die Suppe eingebrockt. Also bitte sagen Sie mir, was meine Kusine sich bei der Verwandlung zu denken hat.


Mit vorzüglicher Hochachtung ergebenst
Dr Siegfried Wolff

Dieser Leser spricht uns aus der Seele. Leider wissen wir (noch) nicht, ob die Kusinen von Herrn Dr. Wolff letztlich die Verwandlung zu deuten wussten, ob Franz Kafka eine Antwort schrieb und wie es am Ende um das Renommee des Herrn Dr. Wolffs bestellt war. Nur eines wissen wir nach hundert Jahren Kafka-Rezeption ganz gewiss: die eine, allumfassende Antwort auf die Fragen der Kusinen wird es nicht geben. Die existentiellen Fragen, die Kafka in seinen Werken stellt, bleiben unbeantwortbar.


Kafka und die verlorene Puppe

Am 27. März erscheint im S. Fischer Verlag Sauerländer „Herr Kafka und die verlorene Puppe“ von Larissa Theule und Rebecca Green. Es handelt sich um eine weitere Adaption einer oft zitierten Kafka-Anekdote. Demnach begegnete Franz Kafka 1923 in Berlin bei einem Spaziergang einem weinenden Mädchen, das ihre Puppe verloren hatte. Kafka tröstete das Mädchen damit, dass er ihr erzählte, die Puppe sei auf Weltreise und werde dem Mädchen sicherlich Briefe schreiben. Diese Briefe las Kafka dem Mädchen dann in den nächsten Tagen bei seinen weiteren Spaziergängen vor.

Eine Quelle dieser Anekdote ist der Band „Als Kafka mir entgegenkam“ von Hans-Gerd Koch im Wagenbachverlag. In dieser Sammlung von Erinnerungen, wird Dora Diamant folgendermaßen zitiert:

„[…] Als wir in Berlin waren, ging Kafka oft in den Steglitzer Park. Ich begleitete ihn manchmal. Eines Tages trafen wir ein kleines Mädchen, das weinte und ganz verzweifelt zu sein schien. Wir sprachen mit dem Mädchen. Franz fragte es nach seinem Kummer, und wir erfuhren, daß es seine Puppe verloren hatte. Sofort erfindet er eine plausible Geschichte, um dieses Verschwinden zu erklären: ‚Deine Puppe macht nur gerade eine Reise, ich weiß es, sie hat mir einen Brief geschickt.‘ Das kleine Mädchen ist etwas mißtrauisch: ‚Hast du ihn bei dir?‘ ‚Nein, ich habe ihn zu Hause liegen lassen, aber ich werde ihn dir morgen mitbringen.‘ Das neugierig gewordene Mädchen hatte seinen Kummer schon halb vergessen und Franz kehrte sofort nach Hause zurück, um den Brief zu schreiben.
Er machte sich mit all dem Ernst an die Arbeit, als handelte es sich darum, ein Werk zu schaffen […] Es war übrigens eine wirkliche Arbeit, die ebenso wesentlich war wie die anderen, weil das Kind um jeden Preis vor einer Enttäuschung bewahrt […] werden mußte.“

Diese „zu Herzen gehende Bilderbuchgeschichte von der tröstenden Kraft der Phantasie“, wie die S. Fischer Verlage sie beschreibt, wurde bereits mehrfach adaptiert, z.B. in Gerd Schneiders „Kafkas Puppe“ im arena Verlag, erschienen 2008. Es ist eine schöne Anekdote, man kann sich dies auch durchaus gut vorstellen und die oben genannten Bücher sind für sich und fiktional betrachtet auch durchaus lesenswert und dennoch: es gibt für diese oft als „wahre Begebenheit“ erzählte Anekdote keine Belege. Niemand weiß, wie das Mädchen hieß, die Briefe wurden bis heute nicht gefunden, es gibt keinen weiteren Belege oder Zeugen für diese Anekdote und schließlich wurde Dora Diamant auch niemals direkt dazu befragt.

Was ich am interessantesten an der ganzen Geschichte und allen Adaptionen und Nacherzählungen finde, ist die Tatsache, dass Dora Diamant aus der Geschichte bei Schneider als auch Theule einfach entfernt wird. Berichtet Dora Diamant von der gemeinsamen Begegnung mit dem Mädchen, so ist es bei allen Adaptionen immer nur Franz Kafka, der dem Mädchen begegnet.


Von Beruf „Hungerkünstler“

In dem Text „Ein Hungerkünstler“ in der Sammlung von vier Texten „Der Hungerkünstler“ (1924) schreibt Franz Kafka von einem Künstler, der sich öffentlich in einem einsehbaren Käfig einsperren lässt, um sich gegen Bezahlung beim Hungern über mehrere Woche beobachten zu lassen. Dieser Künstler ist in seine Kunst so vernarrt, dass er mit dem Hungern gar nicht mehr aufhören will und schließlich im Varieté vergessen wird und tatsächlich verhungert. Am Ende seines Lebens relativiert der Hungerkünstler in seinen letzten Worten gegenüber einem Aufseher seine Kunst und betont das Paradoxe seines Lebens:

„Weil ich hungern muß, ich kann nicht anders“, sagte der Hungerkünstler. „Da sieh mal einer“, sagte der Aufseher, „warum kannst du denn nicht anders?“ „Weil ich“, sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuß gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verloren ginge, „weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.“ 

Inhaltlich eine skurrile Geschichte, die man zunächst als reine Fiktion von Franz Kafka verorten möchte, die jedoch einen wahren Hintergrund hat, denn diese Hungerkünstler hat es in der Tat bis in die 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gegeben. Der große Brockhaus in der 15. Auflage schreibt hierzu 1931:
Hungerkünstler, Menschen, die für Geld sehen lassen, daß sie sich außergewöhnlich lange jeder Nahrung erhalten. Solche H. waren schon im Mittelalter bekannt“. 

Und ein solcher Hungerkünstler war der aus Italien stammende Riccardo Sacco, „dessen Auftritt vom 21. März bis 10. April 1905 im Prager Hofbräuhaus […] zweifelsohne als Vorbild für Kafkas Erzählung steht. Wahrscheinlich hat der noch junge und lebenslustige Kafka das Hofbräuhaus irgendwann während der einundzwanzigtägigen Hungertour Saccos besucht“ (siehe Northey). Ob Kafka tatsächlich diesen Hungerkünstler im Hofbräuhaus gesehen hat, ist nicht überliefert und auch in Stachs ausführlicher Biographie „Kafka – Die frühen Jahre“ findet sich kein Beleg dazu, immerhin wird aber Kafka recht wahrscheinlich in der lokalen Presse, dem Prager Tagblatt und der Deutschen Zeitung Bohemia – beide von der Familie Kafka abonniert, hierüber gelesen haben und vielleicht auch inspiriert worden sein.

Quelle: Anthony Northey, „Neue Funde zum Hungerkünstler Riccardo Sacco“ in „Kafka-Kurier, Numero 1“, Stroemfeld Verlag, 2014

Sie können die vier Geschichten aus „Der Hungerkünstler“ auch hier lesen.


Albert Camus und Kafka

„Kafkas ganze Kunst besteht darin, den Leser zum Wiederlesen zu zwingen. Seine Lösungen oder auch der Mangel an Lösungen legen Erklärungen nahe, die nicht klar ausgesprochen werden und, um begründet zu erscheinen, eine nochmalige Lektüre unter einem neuen Gesichtspunkt verlangen.“

(Albert Camus, Die Hoffnung und das Absurde im Werk von Franz Kafka, 1943)

Der 4. Januar 1960 ist der Todestag von Albert Camus, der an diesem Tage bei einem Autounfall tödlich verunglückte. Anlässlich Camus Todestag möchte ich nochmals auf die Bedeutung von Albert Camus im Hinblick auf Franz Kafka hinweisen.

Franz Kafka war im Grunde nach dem Zweiten Weltkrieg ein in Deutschland gänzlich unbekannter Autor. Zu Lebzeiten hatte er nur sehr wenig und in sehr geringen Auflagen veröffentlicht, einige Schriftsteller kannten, verehrten und lobten ihn, doch eine große Leserschaft hatte er in der Tat nicht. Auch wenn ab Mitte der 1920er Jahre im Verlag Die Schmiede von Max Brod die ersten Texte aus dem Nachlass veröffentlicht wurden, wie „Der Prozess“ (1925), „Das Schloss“ (1926) und „Amerika“ (1927), so blieb der deutschen Leserschaft nur wenig Zeit, die Werke von Kafka zu lesen, da die Schriften des Juden Franz Kafka seit 1933 von den Nationalsozialisten verbrannt und verboten wurden.

Über den Umweg der französischen Übersetzungen – Kafkas Werke wurden durch Alexandre Vialatte (1901 – 1971) ab 1925 ins Französische übersetzt und fanden in Frankreich schnell eine große Leserschaft – kamen Kafkas Werke nach 1945 zurück nach Deutschland und fanden nun eine größere Leserschaft.

„Bereits im Jahr 1928 prophezeite der französische Schriftsteller und Philosoph Félix Berthaux Franz Kafka in Frankreich eine große Zukunft… ob er wohl ahnte, wie Recht er damit hatte?
[…]
Als Kafkas Werke in Frankreich veröffentlicht wurden, war Kafka im französischen Sprachraum ein Unbekannter, kein Ruf eilte ihm voraus. Die Franzosen hatten keinerlei Erwartungshaltung, weil ihnen jegliches Hintergrundwissen bezüglich seiner Biografie und seiner Werke fehlte.
[…]
Interessanterweise wurde der tschechische Autor – vielleicht sogar gerade aufgrund dieser „Exterritorialität“ – in Frankreich von Anfang an sehr positiv aufgenommen. Laut der renommierten Kafka-Übersetzerin Marthe Robert waren die fehlenden Informationen über Kafka und sein Leben tatsächlich der wesentliche Grund, warum es den Franzosen so leicht fiel, sich sein Werk anzueignen und den Autor „dans le bel esprit de naturaliser français un juif tchèque de la langue allemande“ in Frankreich einzubürgern.“

(Anna Jell, „Die französischen Übersetzungen von Kafkas Prozess“, Innsbruck 2012)

Auch die Existentialisten nahmen sich der Werke Kafkas sehr gerne an, denn in Kafkas Werken finden sich absurde und groteske Szenen und Motive, die Sartre (z.B. in „Der Ekel“) und Camus (z.B. in „Der Fremde“) aufnahmen. Beide Autoren haben oft betont, wie sehr sie Kafka schätzten und dass er einen großen Einfluss auf ihr literarische Schreiben hatte. Außerdem sahen sie in Kafka weniger den Dichter als den Philosophen.

Insbesondere der Essay „Die Hoffnung und das Absurde im Werk von Franz Kafka“ 1943 in der Zeitschrift L´Arbalate‘ von Albert Camus veröffentlicht und seine intellektueller Einfluss auf französische und deutschen Literaten, Philosophen und Intellektuelle haben zur Verbreitung von Kafkas Werken beigetragen.


Großer Lärm

Großer Lärm

„Ich sitze in meinem Zimmer im Hauptquartier des Lärms der ganzen Wohnung. Alle Türen höre ich schlagen, durch ihren Lärm bleiben mir nur die Schritte der zwischen ihnen Laufenden erspart, noch das Zuklappen der Herdtüre in der Küche höre ich. Der Vater durchbricht die Türen meines Zimmers und zieht im nachschleppenden Schlafrock durch, aus dem Ofen im Nebenzimmer wird die Asche ausgekratzt, Valli fragt, durch das Vorzimmer Wort für Wort rufend, ob des Vaters Hut schon geputzt ist, ein Zischen, das mir befreundet sein will, erhebt noch das Geschrei einer antwortenden Stimme. Die Wohnungstür wird aufgeklinkt und lärmt, wie aus katarrhalischem Hals, öffnet sich dann weiterhin mit dem Singen einer Frauenstimme und schließt sich endlich mit einem dumpfen, männlichen Ruck, der sich am rücksichtslosesten anhört. Der Vater ist weg, jetzt beginnt der zartere, zerstreutere, hoffnungslosere Lärm, von den Stimmen der beiden Kanarienvögeln angeführt. Schon früher dachte ich daran, bei den Kanarienvögeln fällt es mir von neuem ein, ob ich nicht die Türe bis zu einer kleinen Spalte öffnen, schlangengleich ins Nebenzimmer kriechen und so auf dem Boden meine Schwestern und ihr Fräulein um Ruhe bitten soll.“

Franz Kafka schrieb dieses kleine Prosastück am 5. November 1911 in sein Tagebuch – er war zu diesem Zeitpunkt bereits 28 Jahre alt und lebte als Junggeselle immer noch im elterlichen Haushalt – dies allein entbehrt nicht einer gewissen Komik. Noch skurriler wird es, wenn wir diesen kleinen Text im Kontext seiner Veröffentlichung (tatsächlich zu Kafkas Lebzeiten!) betrachten. Im späten Sommer des Jahres 1912 erbat Willy Haas, einer der Herausgeber der in Prag publizierten „Herderblätter“, von Kafka die Erlaubnis einen Text aus dessen gerade in Arbeit befindlichen Veröffentlichung „Betrachtung“ abdrucken zu dürfen. Kafka antwortete ihm am 26. September 1912: „[…] auch habe ich wegen der Veröffentlichung irgendeiner ‚Betrachtung‘ […] Bedenken bekommen […] Vielleicht sind sie so freundlich und nehmen das beiliegende kleine Stückchen, mit dem ich gerne öffentlich meine Familie züchtigen möchte. Wenn es Ihnen paßt, kann ich mich für die Lieferung derartiger Familiennachrichten den Herderblättern als Mitarbeiter bis in die entfernteste Zukunft zu Verfügung stellen. Schreiben Sie mir bitte mit einem Wort, ob Sie das Stückchen drucken.“

Leider ist uns – zumindest mir – die Antwort von Willy Haas nicht überliefert. Der „große Lärm“ wurde publiziert, weitere „öffentliche Züchtigungen“ seiner Familie sind jedoch nicht bekannt.


Annäherung an Kafka I

Wie sich Kafka nähern, was von Kafka lesen? Die erste Lektüre von Kafka kann fesselnd oder abschreckend sein – was auch immer es ist, bleiben Sie dran. Vielleicht wollen Sie sich aber auch auf anderen, indirekten Wegen Kafka nähern, hierzu ein paar Tipps:

  • Planen Sie einen oder zwei Filmabende und schauen Sie sich Jim Jarmuschs „Dead Man“ (hier finden sich zahlreiche Motive von Kafka) und Steven Soderberghs „Kafka“ (weniger ein Biopic über Kafka als eher eine Aneinanderreihung seiner in Szene gesetzten Prosa) an.
  • Lesen Sie Robert Walser „Der Gehülfe“ bevor Sie von Kafka den Prozess lesen. Kafka hat ihn ebenfalls gelesen und es ist der erste „moderne Angestelltenroman“ mit vielen absurden Zügen.
  • Lesen Sie von Albert Camus den Essay „Die Hoffnung und das Absurde im Werk von Franz Kafka“, erschienen als Teil von „Der Mythos des Sisyphos“ im rororo-Verlag – dazu morgen mehr.
  • Lesen Sie den Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“ von Michael Kumpfmüller. Der Roman ist im Detail fiktiv, orientiert sich aber an Kafkas Biografie und schildert das letzte Lebensjahr von Franz Kafka mit seiner letzten Lebensgefährtin Dora Diamant.

Und schließlich: durchstöbern Sie diese Seiten 🙂


Der meistgelesene deutschsprachige Autor

Franz Kafka wird häufig als der meistgelesene deutschsprachige Autor genannt. Dies wird oft aus dem Kafka-Handbuch von Manfred Engel und Bernd Auerochs (J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 20210) zitiert, welches mit genau dieser Behauptung beginnt: „Kafka ist ohne Zweifel der heute weltweit meistgelesene Autor deutscher Sprache – und sicher der meist umrätselte“. Und so ist es auch im Wikipedia-Eintrag zu Franz Kafka zu lesen. Aber stimmt dies denn auch? Und wie werden solche Zahlen ermittelt?

Ein Weg, den meistgelesenen deutschsprachigen Autor zu bestimmen, ist die Anzahl seiner Übersetzungen zu ermitteln. Hierfür gibt es im Index Translationum – einer Website der UNESCO – eine Quelle. Demnach findet sich Kafka allerdings erst auf Platz acht der meistübersetzten deutschsprachigen Schriftsteller nach Marx & Engels, den Gebrüdern Grimm, Goethe, Brecht und Hesse. Ein ausführlichen Bericht, wie diese Auswertung zustande kommt, findet sich unter Rangliste der international bekanntesten deutschsprachigen Autoren. Ob man dieser Website allerdings sein volles und unkritisches Vertrauen schenken darf, sei dahin gestellt. Die „Studie“ liefert interessante Indizien, aber es ist recht auffällig, dass zum Beispiel Karl May in dieser Liste fehlt. Ob wir Karl May und seine oft triviale (aber dennoch unterhaltsame) Literatur mögen, spielt hier keine Rolle. Wir müssen einfach anerkennen, dass er einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren ist und in mindestens 44 Sprachen übersetzt wurde (Quelle: Karl-May-Wiki und Karl May Freundeskreis Freiburg).

Ein zweiter Weg wäre die weltweite Gesamtauflage zu ermitteln. Es gibt solche Statistiken und demnach ist William Shakespeare weltweit mit über 4 Milliarden Büchern der auflagenstärkste und – je nach Interpretation – der weltweit meistgelesene Autor überhaupt. Für den deutschsprachigen Raum gibt es meines Wissens eine solche Statistik – die auch bitte auf seriösen Quellen basieren soll – leider bisher nicht. Vielleicht ist dies auch besser so, denn sie würde vermutlich lediglich zu Tage bringen, dass Sebastian Fitzek weitaus öfter gedruckt und gelesen wird als Franz Kafka – Dinge, die wir schon ahnen. Dies ist recht wahrscheinlich und kann ungeprüft so stehen bleiben, trotzdem will ich es nicht schwarz auf weiß nach Hause tragen.

Beide Wege geben uns ohnehin keine Auskunft darüber, ob das Buch und der Autor auch tatsächlich gelesen wurde, sondern liefern uns nur nackte Zahlen zu Übersetzungen und Drucken. Ein Indiz für die Lektürehäufigkeit und auch die Bedeutung eines Autors erhalten wir vielleicht über die Recherche zu Sekundärliteratur. Je mehr Werke es zu einem Autor gibt, so können wir annehmen, desto größer ist auch seine Bedeutung, die Faszination, die von ihm ausgeht und vermutlich auch seine Lektüre.

Leider habe ich keinen Einblick in die Standardbibliographie von Maria Luise Caputo-Mayr und Julius Michael Herz „Franz Kafka, Internationale Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur“, publiziert in München 2000 und außerdem hat die Forschung in den vergangen 23 Jahren weitere Publikationen hervorgebracht, so dass ich für eine Schätzung nur Google befragen kann. Eine Suche auf google.com am 01.01.2024 ergab folgende Treffer:

SuchbegriffTreffer
franz + kafka + secondary + literature1.380.000
karl + may + secondary + literature59.900.000
georg + büchner + secondary + literature989.000
heinrich + kleist + secondary + literature1.600.000
johann + goethe + secondary + literature12.000.000

Aber auch dieses Ergebnis hilft uns nicht wirklich weiter, liefert nur Ansätze. Es macht sicherlich kaum Sinn die Sekundärliteratur von May oder auch Goethe mit der zu Kafka zu vergleichen, da diese Autoren ungleich viel mehr geschrieben haben, da ist der Vergleich mit Büchner oder Kleist schon realistischer.

Eine abschließende Aussage läßt sich vermutlich gar nicht so leicht treffen. Kafka als meistgelesener deutscher Autor wird zwar häufig so genannt, belegen lässt es sich aber in der Tat nicht.


J.D. Salingers 105. Geburtstag

Heute, am 1. Januar 2024, jährt sich zum hundertfünften Male der Geburtstag von Jerome David Salinger, dem Autor von „The Catcher in the Rye“ („Der Fänger im Roggen“). Laut des ersten Salinger-Biographen Ian Hamilton, liebte und verehrte J.D. Salinger die Werke von Franz Kafka.

In Ian Hamiltons Biografie „In Search of J.D. Salinger (deutsche Ausgabe „Auf der Suche nach J.D.Salinger“, Limes-Verlag, Berlin 1989), der soweit ich weiß ersten Biografie von J.D. Salinger, wird Salinger zitiert „Ein Schriftsteller sollte, wenn er gebeten wird, sich über sein Handwerk zu äußern, lediglich mit lauter Stimmen die Namen der Schriftsteller nennen, die er liebt.“ Stilistisch und inhaltlich ist dies ein Satz, der durchaus an Kafka erinnern kann und Hamilton fährt fort: „Die Namen, die er […] hätte nennen sollen waren Salinger zufolge: Kafka, Flaubert, Tolstoj, Tschechow, Dostojewski, Proust, O´Casey, Rilke, Lorca, Keats, Rimbaud, Burns, Emily Bronte, Henry James, Blake und Coleridge.“ („Auf der Suche nach J.D. Salinger“, S. 140).

Es gibt einige äußere und scheinbare Parallelen zwischen diesen beiden Autoren: sie führten beide ein sehr zurückgezogenes Leben und sie haben beide einen ungeheuren Einfluss sowie eine weltweite Wirkung auf die Nachkriegsliteratur und sie gehören beiden zu den am meisten gelesenen Autoren ihrer jeweiligen Sprache. In Salingers Werk an sich, finde ich aber nur eine einzige Stelle, die einen konkreten Bezug zu Franz Kafka aufweist.

In „Seymour an Introduction“ („Seymour wird vorgestellt“) finden sich der Erzählung vorangestellt zwei längere Zitate. Das erste ist von Franz Kafka und das zweite von Soeren Kierkegaard. Beide Zitate stehen als freier Text, ohne Anführungszeichen oder Quellenangabe, zu Beginn dieser Erzählung, jedoch klärt der Erzähler nach wenigen Seiten den Ursprung und die Bedeutung dieser Zitate in seinem Kontext auf.


(c) Wallsteinverlag

Erste kommentierte Kafka-Ausgabe

Im Kafkajahr 2024 erscheint im Wallstein-Verlag, der bereits seit vielen Jahren um die Werke von Franz Kafka sehr bemüht ist, die erste kommentierte Leseausgabe der Werke von Franz Kafka. Den Auftakt macht am 28. Februar „Der Prozess“ und laut Verlagswebseite sind folgende Bände in weiterer Planung „Das Schloss“, „Der Verschollene“, „Erzählungen I“ und „Erzählungen II“. Laut Verlagswebseite soll „der ausführliche Stellenkommentar […] die wesentlichen Motive, Begriffe und Erzähltechniken, aber auch bedeutsame Streichungen und Korrekturen [erläutern], was einen Blick in Kafkas Werkstatt ermöglicht.“

Herausgeber dieser Ausgabe ist kein geringer als Reiner Stach.