Kafka verlobt sich

Es ist eine kühle, bewölkte erste Juniwoche im Jahr 1914, der Pfingstsonntag war noch sonnig, doch am Pfingstmontag, den 1. Juni 1914, ziehen die ersten dunklen Wolken auf und die mittleren Temperaturen liegen bei etwa 15 Grad.
An diesem Pfingstmontag, den 1. Juni 1914 empfangen Dr. Franz Kafka und das Fräulein Felice Bauer anläßlich Ihrer Verlobung ihre Familien und einige Freunde in der Wohnung der Familie Bauer in der Wilmersdorfer Straße 73, Ecke Mommsenstraße in Berlin-Charlottenburg, um ihre Verlobung offiziell bekannt zu geben und ein wenig zu feiern.

Hier wohnte Familie Bauer, nachdem sie aus Prenzlauer Berg weggezogen war. Foto: Ungenannt – www.zeno.org – Zenodot Verlagsgesellschaft mbH/Wikimedia Commons

Dieser Verlobung war im Juni 1913 einer der denkwürdigsten Heiratsanträge der Literaturgeschichte vorangegangen. Am 8. und 16. Juni 1913 schrieb Franz Kafka aus Prag seiner Felice Bauer in Berlin einen langen Brief, der sich über sechs Druckseiten erstreckt.

Liebste Felice,

[…] Du erkennst doch schon gewiß meine eigentümliche Lage. Zwischen mir und Dir steht von allem anderen abgesehen der Arzt. Was er sagen wird ist zweifelhaft, bei solchen Entscheidungen entscheidet nicht so sehr medicinische Diagnose. wäre es so, dann stünde es nicht dafür sie in Anspruch zu nehmen. Ich war wie gesagt nicht eigentlich krank, bin es aber doch. Es ist unmöglich, daß andere Lebensverhältnisse mich gesund machen könnten, aber es ist unmöglich diese anderen Lebensverhältnisse hervorzurufen […]
Nun bedenke Felice, angesichts dieser Unsicherheit läßt sich schwer das Wort hervorbringen und es muß sich auch sonderbar anhören. Es ist eben zu bald, um es zu sagen. Nachher aber ist es doch auch wieder zu spät, dann ist keine Zeit mehr zu Besprechungen solcher Dinge, wie Du sie in Deinem letzten Brief erwähnst. Aber zu langem Zögern ist nicht mehr Zeit, wenigsten fühle ich es das so und deshalb frage ich also: Willst Du unter der obigen leider nicht zu beseitigenden Voraussetzung überlegen, ob Du meine Frau werden willst? Willst Du das?

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, S. 207ff)

Spätestens am 18. oder 19. Juni erhält Franz Kafka ein postalisches „Ja“ auf diesen merkwürdigen Antrag, der eher ein „Nein“ erwartet. Es folgen in den kommenden Tagen immer wieder Brief von Kafka, in denen er Felice auffordert alles gut zu überdenken und bitte auch bis ins kleinste Detail zu begründen, so zum Beispiel:

Prag, 19. Juni 1913 Donnerstag

„Ich will heiraten und bin so schwach, daß mir die Knie schlottern in Folge eines kleinen Wortes auf einer Karte. Werde ich morgen einen Brief bekommen, aus dem ich sehen werde, daß Du alles Punkt für Punkt überlegt hast, Dir dessen bis auf den Grund bewußt geworden bist bist und doch ja sagst […]“

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, S. 214)

In einem Brief vom 26. Juni 1913 schreibt Franz an Felice:

„[…] Das einzige, was durch Deinen Brief vielleicht endgiltig ausgeschieden wird sind die Bedenken wegen des unzureichenden Geldes. Das wäre schon viel. Ob Du es aber auch richtig überlegt hast ?[…]“

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, S. 222)

Zwei Wochen nach dem Antrag am 1. Juli 1913 akzeptiert Franz Kafka nach langem Hin und Her endlich das „Ja“ seiner Verlobten:

„Du willst also trotz allem das Kreuz auf Dich nehmen, Felice? Etwas unmögliches versuchen? […] Aber warte ich etwa auf Widerlegung? Nein. Es gab nur dreierlei Antworten: ‚Es ist unmöglich und ich will deshalb nicht‘ oder ‚Es ist unmöglich und ich will deshalb vorläufig nicht‘ oder ‚Es ist unmöglich, aber ich will doch‘. Ich nehme Deinen Brief als Antwort im Sinne der dritten Antwort (daß es sich nicht genau deckt, macht mir Sorge genug) und nehme mich als meine liebe Braut. Und gleich darauf (es will sich nicht halten lassen) aber womöglich zum letzten Mal sage ich, daß ich eine unsinnige Angst vor unserer Zukunft habe und vor dem Unglück, das sich durch meine Natur und Schuld aus unserem Zusammenleben entwickeln kann und das zuerst und vollständig Dich treffen muß, denn ich bin im Grunde ein kalter eigennütziger und gefühlloser Mensch trotz aller Schwäche, die das mehr verdeckt als mildert. […]“

(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, S. 226f)

All dies erinnert eher an einen Verzweifelten als einen romantisch Verliebten. Und dennoch kommt es etwa ein Jahr später, die beiden Verlobten hatten sich in der Zwischenzeit nur wenige Male und immer nur sehr kurz in Berlin oder Prag gesehen, am 1. Juni 1914 zur Verlobung. Von der Verlobungsfeier ist wenig bekannt. Wir wissen, dass Ottlas Lieblingsschwester ebenso zugegen war wie Hermann und Julie Kafka, Felices Freundin Grete Bloch und deren Bruder Hans, die Eltern und die Schwester Felices waren als Gastgeber da und vielleicht auch ein paar weitere Verwandte oder Kolleginnen von Felice Bauer.

Kafka fasst das Geschehen wenige Tage am 6. Juni 1914 in seinem Tagebuch zusammen:

„Aus Berlin zurück. War gebunden wie ein Verbrecher. Hätte man mich mit wirklichen Ketten in einen Winkel gesetzt und Gendarmen vor mich gestellt und mich auf diese Weise nur zuschauen lassen, es wäre nicht ärger gewesen.
Und das war meine Verlobung und alle bemühten sich mich zum Leben zu bringen und, da es nicht gelang, mich zu dulden wie ich war. F. allerdings am wenigsten von allen, vollständig berechtigter Weise, denn sie litt am meisten. Was den anderen blosse Erscheinung war, war ihr Drohung.“

(Franz Kafka, Tagebücher, Frankfurt/Main)

Eine Verlobung, die nur sechs Wochen anhält, denn schon am 13. Juli 1914 wird die Verlobung nach einer folgenreichen Aussprache, dem „Gerichtshof“ im Berliner Hotel „Askanischer Hof“ wieder aufgelöst.


Alle Kafkas in Prag

Über den Namen Kafka, seine Bedeutung und auch seine Verbreitung, habe ich schon kurz berichtet, heute werfe ich einen Blick auf die Kafkas im Jahre 1896.

Laut dem „Adressbuch der Königlichen Hauptstadt Prag und der umliegenden Gemeinden 1896“ gab es 1896 insgesamt 33 unterschiedliche Einträge auf den Namen „Kafka“ in Prag und der näheren Umgebung. Hierunter finden sich auch die Adresseinträge vom Vater Herrmann Kafka („Kafka, Herrmann, Geschäft mit Kurzwaren, Mode und Baumwolle, I. Celetna Straße 3″)

Auszug aus dem "Adressbuch der Königlichen Hauptstadt Prag und der umliegenden Gemeinden 1896" auf Seite 250


140. Geburtstag von Max Brod

Heute vor 140 Jahren, am 27. Mai 1884 wurde Max Brod in Prag geboren und wir verdanken ihm, der den letzten Willen „alles… restlos und ungelesen zu verbrennen“ seines Freundes Franz Kafka nicht erfüllt hat, dass wir uns heute an der wunderbaren Prosa erfreuen können. Außerdem verdanken wir ihm natürlich grundsätzlich, dass das Gesamtwerk von Franz Kafka erhalten geblieben ist und heute für zahlreiche Deutungen, Interpretationen, Spekulationen, Anekdoten und auch Legenden ein sprudelnder Quell der Inspiration ist. Letztlich gäbe es auch diesen Blog nicht ohne Max Brod.

„Ohne Brod kein Kafka und ohne Kafka kein Brod“ – eine oft zitierte Sichtweise, die sich auch durch den ersten Teil der Serie „Kafka“ zieht, aber damit wird man Max Brod vermutlich nicht gerecht. Über den Umgang mit Kafkas Testament und Nachlass, die ersten Werkausgaben durch Max Brod und seine Jahrzehnte andauernde Deutungshoheit ist schon genug geschrieben und kritisiert worden. Dies brauchen wir nicht aufzuwärmen und schließlich liegen heute auch ausreichend kritische Ausgaben der Werke von Franz Kafka vor, so dass sich jeder selbst ein Bild machen kann.

Die lebenslange Freundschaft von Franz Kafka und Max Brod ist aber ebenso wenig zu leugnen, als auch die Tatsache, dass Max Brod ein Förderer der deutschsprachigen Literatur in Prag war und er sicherlich einen großen Anteil an den – wenn auch heute vergessenen – Erfolgen von Franz Werfel, Willy Haas, Oscar Baum und anderen hatte. Auch können wir nicht übersehen, dass Max Brod selber ein überaus produktiver Schriftsteller war und diesem Mann wurde – soweit ich das übersehen kann – noch keine ernst zu nehmende kritische Würdigung oder Biographie zuteil. Vielleicht ändert sich dies ja in den kommenden Jahren… verdient hätte er es.


Kafka und der Prager Frühling

Am 27. und 28 Mai. 1963 – anlässlich des 80. Geburtstages von Franz Kafka – fand im Schloss Liblice eine Kafka-Konferenz statt, die vom damaligen tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes als internationale Tagung initiert wurde. Der Einladung folgten zahlreiche renommierte Schriftsteller und Germanisten aus der Tschechoslowakei und der DDR, u.a. Helmut Richter, Anna Seghers und, einer der bedeutendsten Kafka-Forscher in der DDR, Klaus Hermsdorf sowie auch Teilnehmer aus nicht-sozialistischen Staaten, wie Ernst Fischer aus Österreich. Thema der Tagung war die Wirkung der Werke Kafkas unter besonderer Berücksichtigung des Motivs der Entfremdung. Bis hierhin können wir das bisher beschriebene als den „literaturwissenschaftlichen Alltag“ abhaken, doch das Gesagte enthält nun eine gewisse Brisanz, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Franz Kafka und seine Werke in den Ländern des Ostblocks lange Zeit verboten oder zumindest unerwünscht waren.

Eine besondere Folge dieser Kafka-Konferenz war ihre Auswirkung auf die intellektuellen Debatten in zahlreichen Ostblockstaaten und damit war sie auch eine indirekte Ursache des Prager Frühlings.

„[… ]der Reisende, der in diesem Sommer die Staaten Osteuropas besucht, wird – wenn er Vergleiche zu früheren Reisen anstellt – einen bemerkenswerten Wandel auch in der Kulturpolitik dieser Länder feststellen können. Zwar wäre es verfrüht, von einer völligen Liberalisierung zu sprechen, aber die Diskussion über die Möglichkeiten einer freieren Entfaltung der Kultur ist überall im Gange, der Ruf nach einem mehr an Freiheit ist überall zu hören und kann nicht mehr wie früher, zu Zeiten Stalins, mit administrativen Maßnahmen zum Verstummen gebracht werden.“

(Carl E. Buchalla, Wer wird sich schon vor Kafka fürchten? Das kulturelle „Tauwetter“ in den osteuropäischen Staaten, SAPMO-B-Arch, IV 2/906/273.)


Erstausgabe "Der Heizer" von Franz Kafka.

Der Vater hört widerwillig zu

Am 24. Mai 1913 erscheint „Der Heizer. Ein Fragment“ im Kurt Wolff Verlag, Leipzig, als dritter Band in der Reihe „Der jüngste Tag“ und Franz Kafka erhält von seinem Verleger Kurt Wolff die ersten Exemplare. Es ist anzunehmen, dass Kafka durchaus stolz darauf war, seine eigene Publikation – immerhin erst sein zweites Buch – in Händen zu halten und er wird ebenso stolz darauf gewesen sein, es den Eltern präsentieren zu können. Umso befremdlicher erscheint dann der Tagebucheintrag vom 24. Mai 1913:

24. Mai 13 Spaziergang mit Pick.
Übermut weil ich den Heizer für so gut hielt. Abends las ich ihn den Eltern vor, einen besseren Kritiker als mich während des Vorlesens vor dem höchst widerwillig zuhörenden Vater, gibt es nicht. Viele flache Stellen vor offenbar unzugänglichen Tiefen.

(Franz Kafka, Tagebücher, Frankfurt/Main 2002, Fischer Verlag, S. 561)

Die Darstellung ist einseitig und wir wissen leider nichts von der anderen Perspektive. Aber wir sollten zur richtigen Interpretation einige Dinge beachten: Wie auch immer die Reaktion war, immerhin hat man sich hier und auch an anderen Stellen im Familienkreise die Zeit und auch das Interesse genommen, dem Sohn und Bruder, dem Schriftsteller Franz Kafka und seinen Werken zuzuhören. Dies war keine Selbstverständlichkeit, denn sein Vater Hermann Kafka war Kaufmann durch und durch, kulturell nicht interessiert und wollte am Abend nur die Ruhe und Erholung genießen – zur Entspannung vielleicht ein Bier und ein Kartenspiel – damit er am nächsten Morgen wieder ausgeruht im Geschäft stehen konnte. Eine familiäre Verpflichtung wie diese Lesung konnte den Vater also auch ungeachtet des literarischen Wertes missmutig stimmen.


Die verschiedenen Kafka-Ausgaben

Man kann die unterschiedlichen Ausgaben der Werke von Franz Kafka in vier Kategorien einteilen:

  • Drucke und Ausgaben zu Lebzeiten
    Das ist der kleinste Teil des Werkes von Kafka. Die Werke, die zu seinen Lebzeiten gedruckt wurden, sind unter „Werke“ aufgelistet und umfassen lediglich einige kleinere Erzählungen.
  • Die Ausgaben von Max Brod
    Max Brod war der selbsternannte Nachlassverwalter von Franz Kafka und fing 1925 an, einzelne Werke aus Kafkas Nachlass und insbesondere die Romane zu veröffentlichen. Die ersten Werkausgaben von Kafka, inklusive der Tagebücher und Briefe wurden ab 1935 von Max Brod herausgegeben.
    Hierzu zählen insbesondere:
    – Gesammelte Schriften, Berlin 1935, Schocken Verlag
    – Gesammelte Werke, Frankfurt/Main 1950 – 1974, Fischer Verlag
  • Die kritischen Ausgaben
    Diese Ausgaben sind heute die maßgeblichen Ausgaben von Kafka, da sie auf den Handschriften beruhen und nach literaturwissenschaftlichen und philologischen Maßstäben editiert wurden. Somit nehmen sie auch einen Großteil der Editionsentscheidungen und Eingriffe von Max Brod zurück.
    Zu diesen Ausgaben zählen:
    – Franz Kafka: Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe. Herausgegeben von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcom Pasley und Jost Schillemeit. Frankfurt/Main 2002
  • Die Faksimilie-Ausgaben
    Die historisch-kritische Ausgabe herausgegeben von Roland Reuss und Peter Staengele erscheint seit 1997 und gibt die photomechanische Reproduktion der Handschrift und deren Transkription wieder, so dass der Leser selbst ein eigenes Bild des Werkes, einschließlich aller Streichungen, Ergänzungen, Korrekturen etc. machen kann. Aufgrund der Quellenlage sind leider noch nicht alle Werke erhältlich.

Daneben gibt es zahlreiche Einzelausgaben und Taschenbuchausgaben, die überwiegend und auch in der besten Ausstattung im Fischer Verlag erschienen sind.

Einer Sonderstellung nimmt die Dettelbacher Ausgabe ein, die seit 2023 im Röll Verlag erscheint. Als kritische Linear-Edition bietet sie alle Varianten, Streichungen und Einfügungen im Erzähltext selber (und nicht in Anhang, Separatband oder unübersichtlichem Faksimile) und erzwingt so ein anderes Lesen.


Klassenausflug nach Rostok

Am 21. Mai 1895 macht der knapp zwölfjährige Franz Kafka seinen ersten Klassenausflug nach Rostok. Damit ist jedoch nicht die Hansestadt Rostock gemeint, sondern die kleine Gemeinde Roztoky u Prahy, die ca. 10 Kilometer nördlich von Prag liegt und als Teil der Eisenbahnstrecke Prag – Dresden auch über einen eigenen Bahnhof verfügt. Über die Eisenbahnverbindung ist Roztoky u Prahy in wenigen Minuten aus Prag erreichbar.

Roztoky u Prahy, železniční stanice 2

Um 1850 lebten in diesem kleinen Dorf etwa 1.000 Einwohner, doch ab Ende des 19. Jahrhunderts kommen immer mehr Menschen im Rahmen eines Tagesausflugs oder zur Sommerfrische in diesen beschaulichen und landschaftlich attraktiven Ort. Roztoky u Prahy liegt an der Moldau, hat eine eigene Badeanstalt, ist naturnah und wird auch ab 1900 von der Familie Kafka regelmäßig zur Sommerfrische genutzt und Kafka erlebt hier seinen ersten Flirt.

Wir wissen leider nicht viel über diesen Ausflug und können uns nur ein grobes Bild davon machen. Franz Kafka war seit dem 20. September 1894 Gymnasiast auf dem „Staatsgymnasium mit deutscher Unterrichtssprache in Prag“. Zu seinen Klassenkameraden und Freunden zählten unter anderem Hugo Bergmann, Emil Utitz, Paul Kisch und Oskar Pollak, die vermutlich alle bei dem Ausflug dabei waren. Es wird nicht wild hergegangen sein bei dem Ausflug und man kann sich eine gewisse preussische Disziplin im Umgang des Lehrer Dr. Emil Gschwind mit seinen Schülern durchaus vorstellen. Sehr wahrscheinlich werden die Schüler in diesem Ausflug vor allem die zahlreichen Schlösser und Schlossruinen besichtigt haben.

Franz Kafka als Gymnasiast.

Die Kafkas ziehen um

Mitte Mai 1885 – Kafka ist knappe zwei Jahre alt – zieht die Familie Kafka das erste Mal innerhalb von Prag um. Sie ziehen aus Kafkas Geburtshaus in die Adresse Wenzelplatz 56. In den Jahren 1885 bis 1888 ziehen die Kafkas insgesamt dreimal um, jedoch alle Häuser in diesen Adressen sind nicht mehr erhalten. Man könnte die Familie Kafka für Nomaden halten, denn in der kurzen Lebensspanne von Franz Kafka zog er alleine oder mit seiner Familie über ein Dutzend mal innerhalb von Prag um – und hier sind nicht einmal die Umzüge der Geschäftsdresse oder sein Aufenthalt im Goldenen Gässchen mit einbezogen.

Wer heute Prag besucht kann zahlreiche Häuser, in denen Franz Kafka lebte oder schrieb, noch besuchen, zumindest finden sich die Adressen noch, denn nicht alle Häuser sind erhalten.

Geboren wurde Franz Kafka am 3. Juli 1883 in der Rathausgasse (heute Náměstí Franze Kafky). Von dort zog die Familie in den Jahren 1885 bis 1888 zunächst in die Neustadt an den Wenzelplatz 56, dann in die Geistgasse V/187 und schließlich in die Niklasstraße 6 – beide letzteren Adressen im alten jüdischen Ghetto. Vom Ghetto ging es 1888 in das Sixthaus in der Zeltnergasse 2 (heute Celetná 2) und von dort 1889 ins Haus Minutá am Altstädter Ring. Hier blieb die Familie immerhin drei Jahre leben, bevor sie 1892 zurück in die Zeltnergasse 3 (heute Celetná 3) ins Haus Zu den drei Königen zog. Die Familie war nun fast schon seßhaft geworden, denn erst 1907 kam der nächste Umzug in das Haus Zum Schiff in der Niklasstraße 36. In dieser Adresse entstand im September 1912 Kafkas Erzählung „Das Urteil“ und erst im Jahr 1913 erfolgte der nächste und vorläufig letzte Adresswechsel in das Oppelthaus an der Ecke Pariser Straße/Altstäder Ring (heute Parizska trida/ Staromestske namesti).

Das Oppelthaus ist eigentlich die letzte gemeinsame Adresse der Familie Kafka, aber dennoch hatte Franz Kafka in den Jahren 1914 bis 1917 weitere Adressen. So bewohnte er 1914 eine Adresse in der Bilekgasse (heute Bílkova) und später in der Nerudagasse. Dies waren aber die Wohnungen seiner Schwestern Ellie und Vallie, die nach Kriegsausbruch mit ihren Kindern zurück in die elterliche Wohnung zogen, das ihre beiden Männer an die Front eingezogen wurden und Franz Kafka aus Platzgründen weichen musste. In diesen Jahren, genauer 1916, verbrachte Kafka auch einige Zeit im Goldenen Gässchen. Dort verbrachte er jedoch nur die Nachmittage und Abende zum Schreiben, denn Schlafen konnte man aus Platzgründen in diesem kleinen Refugium nicht.

Dies ist nur ein erster Überblick über die zahlreichen Ortswechsel innerhalb von Prag, deren Ursprung im Übrigen in der Regel im sozialen Aufstieg der Familie Kafka lag, denn das Galanteriewarengeschäft von Hermann und Julie Kafka lief sehr gut und die Familie konnte sich mit der Zeit immer besserer, größere und zentralere Wohnungen leisten. Wir werden auf einzelne Adressen nochmals zu sprechen kommen.

Die meisten Häuser hatten früher tatsächlich Namen, die entweder mit der Geschichte oder der Erscheinung bzw. dem Aussehen des Hauses in Verbindung standen. Diese Hausnamen gab es weit vor Einführung von Straßennamen und Hausnummern und diente bis ins frühe 20. Jahrhundert vielen Menschen als Orientierung, insbesondere in den Zeiten in denen die Alphabetisierung noch sehr gering war.


Kafkas erster Text

Es gibt ein Kommen und ein Gehn
Ein Scheiden und oft kein – Wiedersehn.
Prag, den 20. November
Franz Kafka

(Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, Frankfurt/Main 2002)

Dies ist der erste überlieferte Text von Franz Kafka, ein Eintrag aus dem Poesiealbum seines Schulkameraden und Freunds Hugo Bergmann. Das Jahr dieses Eintrags wurde von Hugo Bergmann auf 1897 datiert.

Das Original ist noch erhalten und somit ist es auch die älteste Handschrift von Franz Kafka und ebenso noch ein Zeugnis seiner Verwendung der deutschen Kurrentschrift:

Kafkas älteste Handschrift, (c) Wagenbacharchiv

Es wäre nicht angemessen, hier von einem typischen Kafka zu sprechen. Zu früh, zu kurz und zu allgemein ist dieser Text und dennoch: würden wir nicht eigentlich im Poesiealbum das unbeschwert Positive erwarten? Also in der zweiten Zeile ein schlichtes „Ein Kommen und ein Wiedersehn“, aber statt dessen die unerwartete Wendung „und oft – kein Wiedersehn“. Das nimmt schon viel vom späteren Kafka vorweg, aber wir können nicht zu viel hier hinein interpretieren, da uns frühe Vergleichstext von Franz Kafka einfach fehlen.