Am 16. September 1889 wurde Franz Kafka eingeschult und hierzu habe ich vor einigen Wochen schon viel zu kurz „berichtet“. Herr Reinhardt Pabst hat mich zu recht darauf aufmerksam gemacht, dass es hierzu einiges zu erzählen gäbe.
In einem vielzitierten Brief vom 21.Juni 1920 an Milena Pollak schildert Kafka seinen Schulweg zur Volksschule folgendermaßen:
„Unsere Köchin, eine kleine trockene magere spitznasige , wangenhohl gelblich, aber fest, energisch und überlegen führte mich jeden Morgen in die Schule. Wir wohnten in dem Haus, welches den kleinen Ring vom großen Ring trennt. Da gieng es also zuerst über den Ring, dann in die Teingasse, dann durch eine Art Torwölbung in die Fleischmarktgasse zum Fleischmarkt hinunter. Und nun wiederholte sich jeden Morgen das Gleiche wohl ein Jahr lang. Beim Aus-dem-Haus-treten sagte die Köchin, sie werden dem Lehrer erzählen, wie unartig ich zuhause gewesen bin. Nun war ich ja wahrscheinlich nicht sehr unartig, aber doch trotzig, nichtsnutzig, traurig, böse und es hätte sich daraus wahrscheinlich immer etwas Hübsches für den Lehrer zusammenstellen lassen. Das wußte ich und nahm also die Drohung der Köchin nicht leicht. Doch glaubte ich zunächst, daß der Weg in die Schule ungeheuer lang sei, daß da noch viel geschehen könne (aus solchem scheinbaren Kinderleichtsinn entwickelt sich allmählich, da ja eben die Wege nicht ungeheuer lang sind, jene Ängstlichkeit und totenaugenhafte Ernsthaftigkkeit) auch war ich, wenigstens noch auf dem Altstädter Ring, sehr im Zweifel, ob die Köchin, die zwar Respektsperson aber doch nur eine häusliche war, mit der Welt-Respekts-Person des Lehrers überhaupt zu sprechen wagen würde. Vielleicht sagte ich auch etwas derartiges, dann antwortete die Köchin gewöhnlich kurz mit ihren schmalen unbarmherzigen Lippen, ich müsste es ja nicht glauben, aber sagen werde sie es. Etwa in der Gegend des Einganges zur Fleischmarktgasse – es hat noch eine kleine historische Bedeutung für mich (in welcher Gegend hast Du als Kind gelebt?) – bekam die Furcht vor der Drohung das Übergewicht. Nun war ja die Schule schon an und für sich ein Schrecken und jetzt wollte es mir die Köchin noch so erschweren. Ich fieng zu bitten an, sie schüttelte den Kopf, je mehr ich bat, desto wertvoller erschien mir das, um was ich bat, desto größer die Gefahr, ich blieb stehn und bat um Verzeihung, sie zog mich fort, ich drohte ihr mit der Vergeltung durch die Eltern, sie lachte, hier war sie allmächtig, ich hielt mich an den Geschäftsportalen, an den Ecksteinen fest, ich wollte nicht weiter, ehe sie mir nicht verziehen hatte, ich riß sie am Rock zurück (leicht hatte sie es auch nicht) aber sie schleppte mich weiter unter der Versicherung auch dieses noch dem Lehrer zu erzählen, es wurde spät, es schug 8 von der Jakobskirche, man hörte die Schulglocken, andere Kinder fiengen zu laufen an, vor dem Zuspätkommen hatte ich immer die größte Angst, jetzt mußten auch wir laufen und immerfort die Überlegung: „sie wird es sagen, sie wird es nicht sagen“ – nun sie sagte es nicht, niemals, aber immer hatte sie die Möglichkeit und sogar eine scheinbar steigende Möglichkeit (gestern habe ich es nicht gesagt, aber heute werde ich es ganz bestimmt sagen) und die ließ sie niemals los.“
(Franz Kafka, Briefe 1918 – 1920, Frankfurt/Main 2023, S. 190 ff.)
Diese Schilderung entstammt der Feder eines Schriftsteller, der über ein Erlebnis aus seiner Kindheit erzählen möchte und so ist es eher anekdotisch als autobiographisch zu lesen, insbesondere auch dann, wenn der Leser und die Leserin die Klammerung „(leicht hatte sie es auch nicht)“ in den Fokus setzt.
Es gibt auch weitere Zeugnisse über die Volksschulzeit von Franz Kafka, zum Beispiel die Erinnerungen seines Freundes Hugo Bergmann:
„Ich war Schulkollege Kafkas von unserem ersten Schultage im Herbst 1889 bis zu unserer Reifeprüfung im Sommer 1901, also durch 12 Jahre.
Wir wohnten als Kinder nahe beieinander und hatten denselben Schulweg in unsere Volksschule am Fleischmarkt. Wenn wir von der Umgebung der Theinkirche kommend in die Schule gingen, hatten wir erst vorbeizugehen an den vielen Fleischläden des Marktes […]
So kam es, daß wir beide am 15.September 1889 […] in die „Deutsche Volks- und Bürgerschule in Prag I“ geführt wurden, um dort vier Jahre lang zu lernen.“
(Hans-Gerd Koch, Als Kafka mir entgegenkam…, Berlin 2013, S. 20)
Oder die Erinnerungen seines Freundes Hugo Hecht, der ebenfalls wie Hugo Bergmann Kafka zwölf Jahre lang in der Schule begleitete und der die gemeinsamen Schulwege folgendermaßen schildert:
„Am 16. September 1889 ging Kafka das erste Mal zur Schule. Seine Eltern wohnten damals im Haus Nr. 2 am Altstädter Ring. Es war nur ein kurzer Spaziergang zur Schule, wohin auch ich am selben Tag von meiner Mutter gebracht wurde. Die deutsche Knaben-, Volks und Bürgerschule stand am Fleischmarkt […] Meine Mutter kannte Kafkas Mutter, da sie beide Mitglieder derselben jüdischen Frauenvereine waren. Was war natürlicher als daß die beiden Mütter nach dem ersten Schultag den kurzen Weg zu Kafkas Haus zusammen gingen. Und vor ihnen schritten brav die kleinen Söhne – Kafka und ich […] Vom nächsten Tag an wurden die Schüler von älteren Geschwistern – wie ich – zur Schule gebracht oder von den Dienstmädchen – wie Kafka. Aber schon nach wenigen Tagen lernten wir, den Heimweg allein zu machen. Prag war damals eine etwas schläfrige, stille Provinz-Hauptstadt mit wenig Verkehr. AUf unserem Weg vom Haus zur Schule, hatten wir nur einmal die Pferde-Straßenbahn zu kreuzen, so daß man uns Kleine ruhig alleine gehen ließ. Auch wenn Kafka von dem Dienstmädchen oder einem Angestellten aus dem Geschäft seiner Eltern abgeholt wurde, gingen wir fast stets in Gruppen in verschiedenen Richtungen zusammen. Fast stets war Kafka in unserer Gruppe, die an seinem Haus vorbei gehen mußte, um nach Hause zu gelangen.“
(Hans-Gerd Koch, Als Kafka mir entgegenkam…, Berlin 2013, S. 32)
Diese beiden Erinnerungen legen ebenso nahe, dass Kafkas Schilderungen mehr anekdotisch zu interpretieren ist. Es erscheint mir eher unwahrscheinlich, dass lediglich der Heimweg in Gruppen bestritten wurde, sondern vermutlich ebenso der Weg zur Schule am Morgen in einer Gruppe getan wurde und dass somit die Begleitung durch die Köchin eher die Ausnahme als die Regel über ein gesamtes Jahr war.
Es ist übrigens interessant, dass sich die beiden obigen Erinnerungen im Datum unterscheiden: der erster Schultag von Franz und den beiden Hugos war der 16. September 1889, denn der 15. September fiel im Jahr 1889 auf einen Sonntag.
Anhand des oben auszugsweise zitierten Briefes an Milena hat Hartmut Binder den Schulweg ausführlich rekonstruiert, mit Bildern, Beschreibungen und Daten versehen, so dass der Weg des kleinen Kafkas einem lebhaft vor Augen geführt wird.
Quellen:
– Franz Kafka, Briefe 1918 – 1920, Frankfurt/Main 2013
– Reiner Stach, Kafka. Die frühen Jahre, Frankfurt/Main 2014
– Hartmut Binder, Franz Kafka. Ein Leben in Bildern, Prag 2024
– Detlev Arens, Prag. Kunst und Geschichte der goldenen Stadt, Köln 1991 (Beitragsbild)
– Hans-Gerd Koch, Als Kafka mir entgegenkam…, Berlin 2013