Die Begeisterung von Franz Kafka für das Turnsystem von Jørgen Peder Müller ist hinlänglich dokumentiert und wurde hier schon einmal beschrieben, aber dass auch Erich Kästner zumindest in seiner Kindheit begeistert müllerte scheint seinen Biographen bisher nicht aufgefallen zu sein, obwohl Kästner hierzu ausführlich im fünfzehnten Kapitel „Meine Mutter, zu Wasser und zu Lande“ seines autobiographischen Kinderroman „Als ich ein kleiner Junge war“ schreibt:
„Im König-Friedrich-August-Bad gab es, außer einer mit der sächsischen Krone verzierten Umkleidekabine für den Monarchen, die von diesem freilich nur selten benutzt und bei starkem Publikumsandrang gegen ein minimales Aufgeld auch an Nichtkönige vergeben wurde, jahrelang eine weitere keineswegs geringe Sensation. Der Herr hieß Müller. Er stammte dessen ungeachtet aus Schweden und war der Erfinder einer Freiluftgymnastik, die er sich zu Ehren das Müllern getauft hatte. Herr Müller trug einen kleinen schwarzen Bart und eine kleine weiße Badehose, war athletisch gewachsen, am ganzen Körper bronzebraun und würde heute, wenn es ihn in seiner damaligen Verfassung noch geben würde, unweigerlich zum Mister Universum gewählt werden. Herr Müller war ohne Frage der schönste Mann des neuen Jahrhunderts. Das fand, bei aller skandinavischen Bescheidenheit, sogar er selber. Das Herrenbad – die Bäder waren streng voneinander getrennt, und man konnte sich mit seiner Mama nur im „Restaurant“ treffen (oh, die Thüringer Bratwürste mit Kartoffelsalat!) -, das Herrenbad schloss sich also Herrn Müllers Ansichten über Herrn Müller vorbehaltlos an, und da das Turnen im Grünen ein Schönheitsmittel zu sein schien, müllerten wir Männer begeistert und voller Hoffnung. Es gibt eine Fotografie, worauf wir, in Badehosen und hübsch hintereinander, zu sehen sind. Herr Müller beschließt die Reihe. Ich bin der Erste. Fast schon so schön wie der Schwede. Nur ohne Bart und wesentlich kleiner.“
(Erich Kästner: Als ich ein kleiner Junge war, Zürich 2018, 5. Auflage des Neuausgabe S. 213 ff.)
Zwischen Erich Kästner und Franz Kafka gibt es ansonsten keinerlei Bezüge – zumindest keine mir bekannten. Kästners erstes Kinderbuch erschien erst 1928, lange nach Kafkas Tod und seine seit 1919 publizierten Gedichte und Zeitungsartikel waren Kafka sehr wahrscheinlich unzulänglich. Dass Erich Kästner wiederum Kafka gelesen haben soll, wäre mir ebenfalls neu und in den Biographien über Kästner, wie von Sven Hanuschek oder Luiselotte Enderle finde ich hierauf keine Hinweise. Beide verbrachten einmal in unmittelbarer Nachbarschaft in Müritz an der Ostsee einen Sommeraufenthalt. Doch zwischen ihren Aufenthalten lagen knapp 10 Jahre: Erich Kästner verbrachte die Sommerferien 1914 in der Pension „Meeresblick“ mit seiner Mutter und seiner Cousine Dora dort und Franz Kafka lernte dort in der Pension „Glückauf“ – unmittelbar neben der Pension „Meeresblick“- im Sommer 1923 seine letzte Lebensgefährtin Dora Diamant kennen.