Am 16. November 1906 war Jørgen Peder Müller, im deutschsprachigen Raum meist nur J.P. oder Johann Peter Müller genannt, in Prag um sein System seiner täglichen Fitnessübungen zu demonstrieren. Das sogenannte „Müllern“ und das zugrundeliegende Buch „Mein System“, im Erscheinungsjahr 1904 direkt aus dem Dänischen ins Deutsche übersetzt, waren in ganz Europa ein großer Erfolg und sehr populär. Auch Franz Kafka pflegte mit Hingabe zu „müllern“ und er verlangte die selbe Hingabe auch von Felice Bauer. So schreibt er in einem Brief an Felice Bauer auf Sylt vom 14. August 1913:
„Auf dem Müllern besteh ich durchaus, das Buch geht heute ab, wenn es langweilig ist, so machst Du es nicht gut, strenge Dich an, es ganz genau (natürlich in sehr vorsichtigem Fortschreiten!) zu machen und es wird Dich schon infolge seiner gleich spürbaren Wirkung nicht langweilen können […]“
(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, S. 262)
Das Buch, von dem Kafka hier spricht, hat er am 7. August 1913 in einem Brief an Felice Bauer angekündigt:
„Das Versprechen, das ich Dir in bianco abgenommen habe und für das ich Dir vielmals danke, betrifft das „Müllern“. Ich werde Dir nächstens das „System für Frauen“ schicken und Du wirst (denn Du hast es doch versprochen, nicht?) langsam, systematisch, vorsichtig, gründlich, täglich zu „müllern“ anfangen, mir darüber immer berichten und mir damit eine große Freude machen.“
(Franz Kafka, Briefe 1913 – 1914, Frankfurt/Main 1999, S. 255)
Auch wenn uns die Antwort von Felice Bauer leider nicht überliefert ist, so können wir doch zwischen den Zeilen erahnen, dass die Verlobte nicht unbedingt begeistert gewesen war. Auch die Vorstellung, dass Kafka jeden Abend bei „10 Minuten Turnen, nackt bei offenen Fenster“ (so schrieb ihr Kafka in einem Brief am 1. November 1912) zu sehen war, passte nur schwer in die gutbürgerliche Welt von Felice Bauer
Der dänische Ausnahmesportler Jørgen Pedder Müller (1866 – 1938), der in über 100 Sportarten Meister- und Wettkamptitel gewann, hatte sein persönliches Fitnesstraining unter dem Titel „Mein System. 15 Minuten täglicher Arbeit für die Gesundheit“ 1904 veröffentlicht. Dieser Titel wurde sehr schnell in ganz Europa zu einem Bestseller und es kam zu Nachfolgetiteln wie „Mein System für Frauen“ und „Mein System für Kinder“.
Die Anwesenheit von Jørgen Pedder Müller im November 1904 in Prag und seine persönliche öffentliche Vorstellung war eine Sensation über die das Prager Tagblatt vom 14. bis zum 17. November 1904 ausführlich berichtete und auch in knapper Form die Übungen wiedergab. Auch für die Prager Damenwelt war es sicherlich reizvoll einen beinah nackten, prominenten Athleten zu bestaunen.
Am 17. November 1906 schrieb das Prager Tagblatt:
„Mein System in Prag. Gestern führte Herr Müller sein System im Spiegelsaal des Deutschen Hauses vor. Der Saal war von einem noblen Publikumbis aus das letzte Plätzchen gefüllt, so daß viele Schaulustige keinen Einlaß mehr fanden. Anwesend waren viele Damen. Universitäts- und Mittelschulprofessoren. Offiziere, Ärzte. Sportsleute und sonstige Interessenten, die den von uns bereits genügend gewürdigten Ausführungen und Demonstrationen Müllers mit großem Interesse folgten.
Es kann angenommen werden, dass unter diesen Interessierten auch der 23jährige Franz Kafka den Demonstrationen Müllers begeistert folgte, da es zahlreiche Belege gibt, dass Kafka zu den begeisterten Müller-Anhänger gehörte. Neben den obigen Briefen aus dem Jahr 1913 gibt es auch Briefe an Max Brod im Jahr 1910 in denen er vom Müllern spricht, zum Beispiel am 10. März 1910:
„In die Lucerna komme ich nicht Max. Jetzt um 4 Uhr bin ich im Bureau und schreibe und morgen nachmittag werde ich schreiben und heute abend und morgen abend und so fort. Auch reiten kann ich nicht. Gerade noch das Müllern bleibt mir.“
(Franz Kafka, Briefe 1900 – 1912, Frankfurt/Main 1999, S. 118)
Oder nur zwei Tage später am 12. März 1910:
„[…] Trost aber brauche ich. Zu rechter Zeit haben jetzt Magenschmerzen und was Du willst angefangen und so stark, wie es sich bei einem durch Müllern stark gewordenen Menschen passt […]“
(Franz Kafka, Briefe 1900 – 1912, Frankfurt/Main 1999, S. 118)
Auch wenn das Müllern aus heutiger Sicht an zahlreichen Stellen zu kritisieren ist, es ist unumstritten, dass Jørgen Peder Müller einer der Mitbegründer der modernen Fitnessbewegung ist.
Leider ist es nur schwer die Originalausgabe von 1904 noch antiquarisch zu finden, jedoch wurde das Buch an verschiedenen Stellen digitalisiert, z.B. findet es sich in der Wellcome Collection. Es ist durch eine amüsante Lektüre wert.