Kafkas kürzester zu Lebzeiten veröffentlichter Text besteht nur aus einem einzigen Satz und ist Teil, der 1912 in Buchform erschienenen Betrachtung:

Wunsch, Indianer zu werden

Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.

Kafka, der ein regelmässiger und intensiver Zeitungsleser war, hat vielleicht am 4. Juli 1908 in der Rubrik vom Tage die merkwürdige Geschichte „Ein Reichenberger, der Indianer wird“ gelesen:

Die „Reichenberger Ztg.“ meldet: Aus Lawton in Oklahoma dringt eine merkwürdige Kunde. Senator Gore, der Vertreter von Lawton, hat es durchgesetzt, daß ein gewisser Hermann Lehman, ein Adoptivsohn des Comanche-Häuptlings Quanah Parker, offiziell von Regierungswegen in die Liste der Indianer aufgenommen wird. Lehmann ist der Abstammung nach ein Deutschböhme, in Reichenberg geboren, und lebt mit seiner Frau und mehreren Kindern auf einer Indianerpachtung in der Nähe von Indiahoma. Bei den Indianern und alten Ansiedlern ist er allgemein als Quanah Parkers Junge bekannt, von den Indianern wird er Montechenagenannt. Sein Leben ist eine richtige Romanze aus dem Grenzleben. Als Lehmann elf Jahre alt war, wurden er und sein Bruder von einer Apachen-Bande, die sich auf dem Kriegspfade befand, aus dem heim ihrer Mutter in Texas geraubt. Bei diesem Überfall verloren viele Ansiedler ihr Leben und die ganze Gegend wurde durch Feuer verwüstet. Bald nach der Gefangennahme gelang es Hermanns Bruder zu entfliehen und wieder zu seinen Angehörigen zurückzukehren. Hermann selbst war aber an ein Pferd gefesselt und als Gefangener zurückgehalten worden. Sein Körper ist mit Wunden bedeckt, die von den Martern herrühren, mit denen ihn die Wilden peinigten. Später wurde Lehmann von den Apachen an den Comanchestamm verhandelt, dessen Häuptling Quanah Parker an dem Jungen gefallen fand, ihn adoptierte und aufzog. Als die Comanches nach Fort Sill kamen und sich dem General Mc Kenzie ergaben, war Lehmann 19 Jahre alt. Eine Kavallerieeskorte brachte ihn zu seinen Angehörigen nach Texas zurück. Hier blieb er mehrere Jahre und verheiratete sich auch, doch zog es ihn wieder in die Wildnis hinaus und so kehrte er bald wieder zu seinem Adoptivvater zurück. Seitdem haben die Comanches und besonders ihr Häuptling alles Erdenkliche getan, um den Adoptivsohn Parkers die Anerkennung der Regierung und damit die übliche Bewilligung zu erwirken. Erst jetzt sind jedoch sind ihre Bemühungen durch das Eingreifen von Senator Gore erfolgreich gewesen.

(Prager Tagblatt vom 4. Juli 1908, Seite 4)