Um den 10. November 1914 erschein der kurze Prosatext „Zum Nachdenken für Herrenreiter“ in „Das bunte Buch“ im Kurt Wolff Verlag Leipzig. „Das bunte Buch“ war der Jahresalmanach des Kurt Wolff Verlages, der in dieser Ausgabe Leseproben u.a. von Robert Walser, Else Lasker-Schüler, Max Brod, Georg Trakl, Georg Heym und vielen anderen enthielt. Alles Autoren, deren Texte in 1913 und 1914 im Kurt Wolff Verlag veröffentlicht wurden. Von Franz Kafka war 1913 seine erste Buchveröffentlichung „Betrachtung“ erschienen, die diesen Text über den unglücklichen Gewinner, den Neid der Neider, die Einsamkeit des Sieges beschreibt.
Zum Nachdenken für Herrenreiter
Nichts, wenn man es überlegt, kann dazu verlocken, in einem Wettrennen der erste sein zu wollen.
Der Ruhm, als der beste Reiter eines Landes anerkannt zu werden, freut bei Losgehn des Orchesters zu stark, als daß am Morgen danach die Reue verhindern ließe.
Der Neid der Gegner, listiger, ziemlich einflußreicher Leute, muß uns in dem engen Spalier schmerzen, das wir nun durchreiten nach jener Ebene, die bald vor uns leer war bis auf einige überrundete Reiter, die klein gegen den Rand des Horizonts anritten.
Viele unserer Freunde eilen den Gewinn zu beheben und nur über die Schultern weg schreien sie von den entlegenen Schaltern ihr Hurra zu uns; die Freunde aber haben gar nicht auf unser Pferd gesetzt, da sie fürchteten, käme es zum Verluste, müßten sie uns böse sein, nun aber, da unser Pferd das erste war und sie nichts gewonnen haben, drehn sie sich um, wenn wir vorüberkommen und schauen lieber die Tribünen entlang.
Die Konkurrenten rückwärts, fest im Sattel, suchen das Unglück zu überblicken, das sie getroffen hat, und das Unrecht, das ihnen irgendwie zugefügt wird; sie nehmen ein frisches Aussehen an, als müsse ein neues Rennen anfangen und ein ernsthaftes nach diesem Kinderspiel.
Vielen Damen scheint der Sieger lächerlich, weil er sich aufbläht und doch nicht weiß, was anzufangen mit dem ewigen Händeschütteln, Salutieren, Sich-Niederbeugen und In-die-Ferne-Grüßen, während die Besiegten den Mund geschlossen haben und die Hälse ihrer meist wiehernden Pferde leichthin klopfen.
Endlich fängt es gar aus dem trüb gewordenen Himmel zu regnen an.
Entstanden ist dieses Prosastück vermutlich zwischen 1907 und 1910 und wurde vielleicht auch durch die Reise nach Paris mit Max Brod beeinflusst, als sie in Paris die Pferderennbahn besuchten. Gerhard Oberlin deutet in „Kafka verstehen. Text und Deutung“ (Oberlin, Würzburg 2021, S. 82 f.) an, dass Herrenreiter als auch „Herrenmensch“ oder „Herrenrasse“ gelesen werden könne, die Gewinner möglicherweise die erfolgreichen Juden repräsentiere und der Neid der Neider als Antisemitismus gelesen werden könne. Bestreiten will ich diesen möglichen Ansatz hier nicht, doch denke ich, dass Kafka zum einen mit dem Pferdesport vertraut war und zum anderen den Begriff des „Herrenreiters“ durchaus in der damals und auch heute noch im Pferdesport üblichen Verwendung benutzte. Der Große Brockhaus in der 15. Auflage von 1931 kennt das „Herrenreiten, ein Pferderennen, bei dem nur Herrenreiter (Amateurreiter, die keinerlei Vergütung für ihre Ritte annehmen) zugelassen werden.“
Kafkas Parabel verdeutlich zum einen, dass die Sieger oft allein in ihrem Siege sind, dass – wie wir es heute aus auch der Popkulur kennen – Prominenz und Erfolg viele Schattenseite hat, dass all dies aber auch zeitlich begrenzt hat, denn „endlich fängt es gar aus dem trüb gewordenen Himmel zu regnen“ an und wir wenden uns anderen Dingen zu.
Bildquelle: WDR/filmore-bergerarchiv