Am 12. November 1914 schreibt Kafka in sein Tagebuch:
„Die Eltern die Dankbarkeit von ihren Kindern erwarten (es gibt sogar solche, die sie fordern) sind wie Wucherer, sie riskieren gern das Kapital, wenn sie nur die Zinsen bekommen.“
(Franz Kafka, Tagebücher, Frankfurt/Main 2002, S. 698)
Für sich alleine betrachtet ein schöner Aphorismus. Im Kontext von Kafkas Biographie ahnt man, da steckt mehr dahinter. Aber es ist nur eine Ahnung, denn weder die Briefe noch die Tagebucheinträge oder Werke um diesen Zeitraum herum lassen eindeutig erkennen, das hier mehr dahinter stecke als für sich allein betrachtet ein Aphorismus.
Themen, die Kafka in dieser Zeit besonders interessieren und sich auch im Tagebuch widerspiegeln, sind einerseits der Verlauf des Ersten Weltkrieges. Die gesamtgesellschaftliche Euphorie vom Beginn des Krieges ist längst verflogen und die ersten Verwundeten kehren nach Hause zurück. So auch Kafkas Schwager Josef Pollak, Ehemann seiner Schwester Valli, der zu Beginn des Novembers 1914 mit einer Schussverletzung für drei Wochen Heimaturlaub in Prag weilt und von den Schrecken des Krieges berichtet. Andererseits belastet ihn die Asbestfabrik immer mehr und auch das Wissen, dass Karl Hermann, Ehemann von Kafkas Schwester Elli, offensichtlich der Fabrik Geld entzieht. Die Zeit wird zudem überschattet von einer familiären Tragödie, denn Carl Bauer, der Vater von Felice Bauer stirbt am 5. November 1914. Hier ließe sich einiges ableiten, doch nichts führt zwingend zu der obigen Notiz.
Für sich allein betrachtet aber bleibt es ein schöner Aphorismus.