Armer zahlungsunfähiger Ausländer

Am 28. Januar 1924 bezieht Franz Kafka seine letzte Wohnung in der Heidestr. 25-26 in Berlin-Zehlendorf bei Frau Dr. Busse. Das Haus und die Wohnung existieren heute nicht mehr, doch erinnert eine Plakette am neuen Bau an der berühmten Bewohner. Hier verbringt er, wenngleich schon schwer gezeichnet vom späten Stadium seiner Lungentuberkulose, mit Dora Diamant eine glückliche Zeit bis März 2024. Im März 2024 wird sein Gesundheitszustand so schlecht sein, dass Kafka ein Einsehen hat und sich, nach einem kurzen Aufenthalt in Prag, in ein Sanatorium in Wien begibt.

Der Titel des heutigen Blogeintrag entstammt Kafkas Briefen. Er schreibt am 28. Januar 1924 an seinen Freund Felix Weltsch:

„[…]Verlockend macht allerdings nur deshalb, weil ich in meiner bisherigen schönen Wohnung als armer zahlungsunfähiger Ausländer gekündigt worden bin.“

(Franz Kafka, Briefe 1902 – 1924, S. Fischer Verlag 1975)

Dora Diamant und Franz Kafka mussten mehrfach in Berlin die Wohnung wechseln und der Hauptgrund dafür war aber die – heute schwer nachvollziehbare – Tatsache, dass die beiden ein unverheiratetes Paar waren. Dies sorgte für Gerede und war kaum einen Vermieter recht.


Ein Faustschlag auf den Schädel

Am 27. Januar 1904 schreibt Franz Kafka im Alter von jungen 21 Jahren einen Brief an seinen damaligen engen Schulfreund Oskar Pollak, der eines der am häufigsten zitierten Ansichten Kafkas zur Literatur im Allgemeinen enthält:

Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wäldern verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.

(Franz Kafka, Briefe 1902 – 1924, Frankfurt 1975)

Fett hervorgehoben in dem obigen Zitat sind die Ausschnitte, die sehr häufig zitiert werden oder als „Motiv“ für literarische Postkarten und ähnlichem dienen. Kafka nimmt sich hier selbst vorweg, denn seine Werke treffen uns oft selbst wie ein Faustschlag auf den Schädel.

Was in diesen Zitaten verborgen bleibt, ist der Kontext, in dem Kafka seinem Schulfreund schreibt. Franz Kafka ist dem Freund seit vierzehn Tagen eine Briefantwort schuldig, doch er hatte bisher keine Muße zur Feder zu greifen, denn Kafka hatte „[…] Hebbels Tagebücher (an 1800 Seiten) in einem Zuge gelesen […]“. Es ist also nicht ein literarisches Werk, das selbst wie ein Faustschlag wirken kann, wie etwa Kleists Kohlhaas oder Goethes Werther, was ihn hier gerade beschäftigt, sondern Friedrich Hebbels Tagebücher aus den Jahren 1835 bis 1863.

Wenn man Hebbel und Kafka in Verbindung bringen möchte, lohnt sich ein Blick in Hebbels Verständnis vom Konflikt im klassischen Drama, so schrieb er 1843 in „Ein Wort über das Drama“: „Die dramatische Schuld [entspringt] nicht, wie die christliche Erbsünde, erst aus der Richtung des menschlichen Willens […], sondern unmittelbar aus dem Willen selbst, aus der starren, eigenmächtigen Ausdehnung des Ichs“. Wer diese Zeilen liest, kann sich problemlos einen Gregor Samsa vor das innere Augen holen, der stur, starr und eigenmächtig zu einem Ungeziefer mutiert und so eine Schuld auf sich lädt.


Kafka und der Jägermeister

Im Jahr 1973 veranstaltete Mast-Jägermeister SE, Hersteller des Likörs Jägermeister, eine Werbekampagne, in dem er ca. 3.500 Personen befragte, warum sie den bekannten Kräuterlikör trinken. Eine der Antworten muss von einem verzweifelten Kafkaleser stammen.

(Bild-Quelle: Hochsitz-Cola.de)

Auch wenn es diese originelle Werbung in den Wikipedia-Artikel zu Kafka und auch in Kafka-Handbuch von Manfred Engel und Bernd Auerochs (Kafka Handbuch, Metzler Verlag, S. XIII) geschafft hat, es ist nicht bekannt, dass sie auch der Verbreitung von Kafkas Werken dienlich war.


Ein Gott als Beamter

Poseidon

„Poseidon saß an seinem Arbeitstisch und rechnete. Die Verwaltung aller Gewässer gab ihm unendliche Arbeit. Er hätte Hilfskräfte haben können, wie viel er wollte, und er hatte auch sehr viele, aber da er sein Amt sehr ernst nahm, rechnete er alles noch einmal durch und so halfen ihm die Hilfskräfte wenig. Man kann nicht sagen, daß ihn die Arbeit freute, er führte sie eigentlich nur aus, weil sie ihm auferlegt war, ja er hatte sich schon oft um fröhlichere Arbeit, wie er sich ausdrückte, beworben, aber immer, wenn man ihm dann verschiedene Vorschläge machte, zeigte es sich, daß ihm doch nichts so zusagte, wie sein bisheriges Amt. Es war auch sehr schwer, etwas anderes für ihn zu finden. Man konnte ihm doch unmöglich etwa ein bestimmtes Meer zuweisen; abgesehen davon, daß auch hier die rechnerische Arbeit nicht kleiner, sondern nur kleinlicher war, konnte der große Poseidon doch immer nur eine beherrschende Stellung bekommen. Und bot man ihm eine Stellung außerhalb des Wassers an, wurde ihm schon von der Vorstellung übel, sein göttlicher Atem geriet in Unordnung, sein eherner Brustkorb schwankte. Übrigens nahm man seine Beschwerden nicht eigentlich ernst; wenn ein Mächtiger quält, muß man ihm auch in der aussichtslosesten Angelegenheit scheinbar nachzugeben versuchen; an eine wirkliche Enthebung Poseidons von seinem Amt dachte niemand, seit Urbeginn war er zum Gott der Meere bestimmt worden und dabei mußte es bleiben.
Am meisten ärgerte er sich — und dies verursachte hauptsächlich seine Unzufriedenheit mit dem Amt — wenn er von den Vorstellungen hörte, die man sich von ihm machte, wie er etwa immerfort mit dem Dreizack durch die Fluten kutschiere. Unterdessen saß er hier in der Tiefe des Weltmeeres und rechnete ununterbrochen, hie und da eine Reise zu Jupiter war die einzige Unterbrechung der Eintönigkeit, eine Reise übrigens, von der er meistens wütend zurückkehrte. So hatte er die Meere kaum gesehn, nur flüchtig beim eiligen Aufstieg zum Olymp, und niemals wirklich durchfahren. Er pflegte zu sagen, er warte damit bis zum Weltuntergang, dann werde sich wohl noch ein stiller Augenblick ergeben, wo er knapp vor dem Ende nach Durchsicht der letzten Rechnung noch schnell eine kleine Rundfahrt werde machen können.“

(Franz Kafka, Beschreibung eines Kampfes, S. Fischer Verlag, 1986)

Poseidon ist ein ganz typischer Kafka-Text, geschrieben um 1920 und erst im Nachlass von Max Brod veröffentlicht. Es gibt weder konkreten Ort noch Zeit, ein Gott wird zu einem gewissenhaften Beamten, der sich und seiner Arbeit vollkommen entfremdet ist, denn was gibt es in den oder mit den Meeren zu rechnen und warum hat der Gott der Meere, diese niemals kennengelernt, niemals durchfahren? Der Gott wird zu einem austauschbaren Mitarbeiter, der jeden Kontakt zu sich selbst in und mit der Außenwelt verliert, das Meer wird zum Symbol der Unbeherrschbarkeit, eine sinnlos scheinende mathematische Erfassung der Meere wird zum Sinnbild der entfremdeten Bürokratie und vielleicht kehrt sich die die Geschichte auch hier um. Vielleicht geht es genau darum: der Mensch selbst muss dem Ganzen einen Sinn geben, auch wenn es nur die verrückt erscheinende Rechenarbeit mit den Meeren ist.

In dieser Lesart kann man sich fragen, ob Albert Camus diesen kurzen Text von Kafka kannte, als der den Mythos des Sisyphos schrieb?


Angst vor dem Telephon

Franz Kafka hatte tatsächlich Angst vor dem Telefon und hatte eine tiefe Abneigung gegen das telefonieren, deswegen konnte er sich gut vorstellen, dass das Telefonieren von einer Maschine übernommen werden sollte. Eine hierfür geeignete Maschine war in seinen Augen der „Parlograph“, der frühe Vorläufer des heutigen Diktiergerätes und so schrieb Franz Kafka am 22. Januar 1913 an Felice Bauer, die in Berlin für die Carl Lindström AG arbeitete – jene Firma, die den „deutschen“ Parlographen entwickelte und vertrieb. In diesem Brief lässt er seiner humorvollen Phantasie freien Lauf:

„[…] Es wird eine Verbindung zwischen dem Telephon und dem Parlographen erfunden, was doch wirklich nicht so schwer sein kann. Gewiß meldest Du mir schon übermorgen, daß es gelungen ist. […] Eine Verbindung zwischen Grammophon und Telephon hätte ja auch keine so grpoße allgemeine Bedeutung, nur für Leute, die, wie ich, vor dem Telephon Angst haben, wäre es eine Erleichterung. Allerdings haben Leute wie ich auch vor dem Grammophon Angst, und es ist ihnen überhaupt nicht zu helfen. Übrigens ist die Vorstellung ganz hübsch, daß in Berlin ein Parlograph zum Telephon geht und in Prag ein Grammophon, und diese zwei eine kleine Unterhaltung miteinander führen. Aber Liebste, die Verbindung zwischen Parlograph und Telephon muß unbedingt erfunden werden. […]“

(Brief an Felice Bauer vom 22.01.1913 aus Franz Kafka, Briefe an Felice, Frankfurt 1976)


Todestag Jürgen Born jährt sich am 22.01.

Morgen vor einem Jahr, am 22. Januar 2023 ist Jürgen Born im Alter von 95 Jahren gestorben und mit diesem Artikel soll an einen der bedeutendsten deutschen Kafka-Forscher erinnert werden. Jürgen Born wurde 1928 in Danzig geboren, war Germanist und Philologe und hat sich über 50 Jahre eingehend mit dem Werk von Franz Kafka beschäftigt. Jürgen Born hat zahlreiche Fakten zusammengetragen und geholfen, ein detailliertes Bild von Franz Kafka, seinem Leben, seinem Werk und dessen Wirkung zu erhalten. Wir verdanken Jürgen Born die „Forschungsstelle Prager deutscher Literatur“ an der Universität Wuppertal und der Erhalt der Bibliothek von Franz Kafka.

Jürgen Born war Herausgeber u.a. der folgenden Werke:

  • Kafkas Bibliothek. Ein beschreibendes Verzeichnis, S. Fischer Verlag 1990
  • Franz Kafka. Briefe an Felice, S. Fischer Verlag 1976
  • Franz Kafka. Briefe an Milena, S. Fischer Verlag 1986
  • Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912-1924, S. Fischer Verlag 1979
  • Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924-138, S. Fischer Verlag 1983

Außerdem war Jürgen Born der Mitherausgeber der Kritischen Ausgabe von Franz Kafkas Werken und Tagebüchern.


Zürauer Aphorismus 2

„Alle menschlichen Fehler sind Ungeduld, ein vorzeitiges Abbrechen des Methodischen, ein scheinbares Einpfählen der scheinbaren Sache.“

(Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, S.Fischer Verlag 1986)

Nach seiner Diagnose der Tuberkulose im August 1917 verbrachte Franz Kafka fast acht Monate vom 12.09.1917 bis 30.04.1918 in Zürau bei seiner Schwester Ottla zur Erholung. In dieser Zeit schrieb er nur sehr wenige fiktionale Texte und auch kaum Tagebuch. Er verfasste jedoch in zwei Oktavheften einiges an Kurzprosa und 109 Kurztexte auf abgerissenen Zetteln, die oftmals unter „Zürauer Aphorismen“ zusammengefasst werden.


Zürauer Aphorismus 1

„Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sonder knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden.“

(Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, S.Fischer Verlag 1986)

Nach seiner Diagnose der Tuberkulose im August 1917 verbrachte Franz Kafka fast acht Monate vom 12.09.1917 bis 30.04.1918 in Zürau bei seiner Schwester Ottla zur Erholung. In dieser Zeit schrieb er nur sehr wenige fiktionale Texte und auch kaum Tagebuch. Er verfasste jedoch in zwei Oktavheften einiges an Kurzprosa und 109 Kurztexte auf abgerissenen Zetteln, die oftmals unter „Zürauer Aphorismen“ zusammengefasst werden.


Widerwillen vor „Verwandlung“

„19. I 14 Angst im Bureau abwechseln mit Selbstbewußtsein. Sonst zuversichtlicher. Großer Widerwillen vor „Verwandlung“. Unlesbares Ende. Unvollkommen fast bis in den Grund. Es wäre viel besser geworden, wenn ich damals nicht durch die Geschäftsreise gestört wurden wäre.“

(Franz Kafka, Tagebücher, Frankfurt/Main 2002)

Vor hundertundzehn Jahren war dies der letzte Tagebucheintrag von Kafka zur Erzählung „Die Verwandlung“ bevor er sie Ende Januar an Franz Blei zur Veröffentlichung sendete. Er quälte sich mit der Geschichte und deren Abschrift aus seinen Oktavheften in ein Manuskript, seit dem Kurt Wolff in im März 1913 um das Manuskript gebeten hatte.

Franz Kafka hatte mit der Niederschrift der Verwandlung am 17. November 1912 begonnen, wie er in einem Brief am selben Tag an Felice Bauer mitteilte:

„Ich werde Dir übrigens heute wohl noch schreiben, wenn ich auch noch heute viel herumlaufen muß und eine kleine Geschichte niederschreiben werde, die mir in dem Jammer im Bett eingefallen ist und mich innerlichst bedrängt.“

(Brief an Felice Bauer vom 17. November 1912)

Und einen Tag später schreibt er wieder an Felice:

„Gerade setzte ich mich zu meiner gestrigen Geschichte, mit einem unbegrenzten Verlangen, mich in sie auszugießen, deutlich von aller Trostlosigkeit aufgestachelt.“

(Brief an Felice Bauer vom 18. November 1912)

Er schloss die Erzählung am 6. Dezember 1912 unzufrieden ab. Die Unterbrechung vor der Kafka im Tagebuch schreibt, war lediglich eine eintägige Dienstreise am 26. November nach Kratzau.

„Liebste, also höre, meine kleine Geschichte ist beendet, nur macht mich der heutige Schluß gar nicht froh, er hätte schon besser sein dürfen, das ist kein Zweifel.“

(Brief an Felice vom 6. Dezember 1912

Heute zählt „Die Verwandlung“ zu den am häufigsten und am kontroversesten gedeuteten Werken von Franz Kafka, wird in der Schule gelesen, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und sie schafft es vermutlich problemlos in jedes Ranking der Top Ten von Kafkas Werken. Kafka selbst war nicht zufrieden mit der Geschichte, denn er glaubte, dass er diese Geschichte „höchstens mit einer Unterbrechung in zweimal 10 Stunden niederschreiben“ hätte müssen (Brief an Felice Bauer vom 24./25.11.1912) und er nun nur das bestmögliche draus machen könne, aber wenn man sich die Handschriften von Kafka hier anschaut, tut er sich selbst Unrecht. Er hat die Handlung chronologisch aufgezeichnet und es gibt nur wenige Korrekturen während des Schreibens. Er hat also keineswegs mit der Geschichte gehadert oder musste aufgrund der langen Schreibdauer immer wieder neu ansetzen oder korrigieren. Ganz im Gegenteil scheint auch die Verwandlung – ähnlich wie „Das Urteil“ aus einem Guss zu sein.


Kafka „in seiner schleimigen Bosheit“

Am 18. Januar 1914 schreibt Ernst Weiß in der National-Zeitung in Berlin eine kurze, aber sehr wohlwollende Rezension zu Kafkas „Der Heizer“, der wenige Monate vorher im „Jüngsten Tag“ erschienen ist.

„Der Verlag Kurt Wolff in Leipzig gibt eine Sammlung kleinerer Schriften heraus, die den Titel „Der jüngste Tag“ führt […] Zwei von diesen schmalen Büchern scheinen mir besonders wert, beachtet, nein, gelesen, nein, auch(!) gekauft zu werden. Zwei Namen stehen da, die jetzt noch keinen Schatten werfen, lautlos dastehen, aber doch den Klang künftiger Schönheit und Bedeutung vorausahnen lassen: Franz Kafka und Carl Ehrenstein.
Franz Kafka Buch heißt: ‚Der Heizer, ein Fragment‘. Es ist nicht mehr als das erste Kapitel eines ersten Romans.
Aber über fünfzig Seiten leigt eine Glut, eine sommerliche Fülle sondergleichen. Nichts ist nebensächlich, kein Satz, kaum ein Wort steht im Schatten. Dieses Fragment, an dem nichts Problematisches mehr haftet, zeigt eine ungewöhnliche epische Kraft […]
nach dieser Probe, nach diesem ersten Kapitel erwarten wir den ganzen Roman. Es wird der Roman eines Mannes, das Werk eines Dichters sein.“

(Jürgen Born et al., „Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912 – 1924, Fischer-Verlag)

Ernst Weiß und Franz Kafka haben sich im Sommer 1913 kennengelernt, schrieben sich Briefe, zollten einander als Schriftstellerkollegen Respekt, haben sich hin und wieder auch persönlich getroffen, jedoch kam es im Jahr 1916 zum Bruch zwischen den beiden Männern. Ernst Weiß hatte gerade seinen zweiten Roman „Der Kampf“ veröffentlich und forderte seinen Freund auf, ihm eine positive Rezension zu schreiben, doch Franz Kafka schlug diese Bitte aus. Daraufhin beklagte sich Ernst Weiß in Briefen an seine Geliebte Rahel Sanzara über den „bösen Pharisäer“ Kafka und weiter „Kafka wird, je länger ich von ihm entfernt bin, desto unsympathischer mit seiner schleimigen Bosheit“.

Weiß tut Kafka hier Unrecht, den Kafka befand sich in einer Phase, in der er nichts schrieb – und Kafka war konsequent. Wenn er nicht für sich selbst schreiben konnte, dann schrieb er auch nicht für andere. Dabei hatte er den Roman „Der Kampf“ tatsächlich auch gelesen, er fand sich selber in dem Roman wieder und hat ihn auch zur Lektüre an Felice Bauer weiterempfohlen. Und dennoch, er hielt an seinem Prinzip fest: er schrieb weder für sich noch für andere. Die Ausnahme in dieser Zeit sind lediglich Briefe und sein Tagebuch.

(Rainer Stach, Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, Frankfurt/Main 2008, S.101ff)