Im aktuellen Kafka Kurier Numero 6 dokumentiere ich eine Neuentdeckung in der Biographie des jungen Kafkas im Artikel „Der junge Franz Kafka zur Sommerfrische in Gießhübl-Sauerbrunn 1897“, die erste Reise von Franz Kafka ohne Begleitung seiner Eltern. Auf dieser Reise verbringt der vierzehnjährige Franz Kafka einige Tage mit seinen Onkeln Siegfried und Joseph Loewy im Kurort Gießhübl-Sauerbrunn (heute Kyselka) in der Nähe von Karlsbad. Diesen Artikel ergänze ich hier um die Bedeutung dieses Aufenthalts für sein späteres literarisches Schaffen.
Das Zusammentreffen des Kongo-Abenteurers Joseph Loewy mit seinem jungen Neffen hat sichtbare Spuren in Kafkas Werk hinterlassen. Es gibt nur eine namentliche und ganz konkrete Erwähnung des Kongos in einem kurzen Fragment, das folgendermaßen beginnt:
„Es war kein heiteres Leben, das ich damals beim Bahnbau am mittleren Kongo führte. Ich saß in meiner Holzhütte auf der überdeckten Veranda. Anstatt einer Längswand war ein außerordentlich feinmaschiges Moskitonetz ausgespannt, das ich von einem der Arbeiterführer, dem Häuptling eines Stammes, durch dessen Gebiet unsere Bahn gehen sollte erstanden hatte“[1]. Es scheint naheliegend, dass Kafka beim Schreiben dieser Worte seinen Onkel Joseph Loewy vor Augen hatte
Darüber hinaus sind es mindestens zwei weitere größere Texte von Kafka, die einen Einfluss durch die Erzählungen Joseph Loewys vermuten lassen können, ja vielleicht sogar vermuten lassen müssen. Dies ist zum einen der schon zu Lebzeiten veröffentlichte Text „Schakale und Araber“ und die Prosaskizze „Erinnerungen an die Kaldabahn“. Bisher gab es für diesen Einfluss keine Belege, da weder ein Schriftwechsel mit Joseph Loewy überliefert ist noch Kenntnis darüber bestand, dass es zu einem persönlichen Treffen zwischen Onkel und Neffen kam. Dies ändert sich mit den vorliegenden Quellen deutlich, da wir nun davon ausgehen können, dass Joseph Loewy seinem Neffen Franz Kafka ausgiebig von seinen Abenteuern in Belgisch-Kongo erzählt hat und wir können auch vermuten, dass diese vollkommen neuen und fremden Erzählungen einen nachhaltigen Eindruck bei dem vierzehnjährigen Franz Kafka hinterlassen haben können.
Die Erzählung „Schakale und Araber“ wurde im Erzählband „Ein Landarzt. Kleine Erzählungen“ im Frühjahr 1920 im Kurt Wolff Verlag erstmalig veröffentlich. Entstanden ist sie vermutlich Anfang Februar 1917[2]. Detaillierte Quellen für den Text sind nicht gesichert überliefert.
Dass ein Prager Dichter ohne jede exotische Reiseerfahrung, ohne Lektüre von Abenteuerbüchern[3] und ohne jede Afrika- oder Asienkenntnis in einer Erzählung von einem Konflikt zwischen Schakalen und Arabern berichtet, ist nicht unbedingt naheliegend. Aber wir können uns nun sehr gut vorstellen, dass der Onkel Joseph Loewy, der seit 1891 im Kongo tätig war, eben hiervon bildreich berichtet hat. Dafür spricht zum einen die Verbreitung des Schakals, der eine breite Population in Zentralafrika und somit auch im Kongo hat und zum anderen die Tatsache, dass als „Belgier (und auch Handelsleute anderer Länder) anfingen, das Kongogebiet für sich nutzbar zu machen, stießen diese Unternehmer großen Stils auf jene kleineren Formats: auf Araber und Häuptlinge der Eingeborenenstämme“[4]. Joseph Loewy war zudem in einem Zeitraum im Kongo, der von Konflikten zwischen Arabern und Europäern, Sklavenaufständen und weiteren Konflikten geprägt war. Der vierzehnjährige Franz Kafka wird sicherlich staunend seinem Onkel gelauscht haben, wenn dieser von wilden Tieren, Menschen mit anderen Hautfarben und gänzlich fremden Kulturen, der gefährlichen Arbeit an der Kongobahn, den Araberaufständen und vielem mehr erzählt hat.
Im Manuskript „Schakale und Araber“ lautet der erste Satz „Wir lagerten in der Oase Gemalja“[5] und die Ortsbezeichnung Gemalja wird von Kafka gestrichen und erscheint auch in den späteren Druckfassungen nicht mehr. Malte Kleinwort deutet in seiner Studie „Kafka in Babels Ruinen“[6] als biblisches Motiv:
„Wohin führt uns aber jene gestrichene Spur? Die Spur Gemalja? Wer oder was ist Gemalja? Im gestrichenen „Gemalja“ verbirgt sich eine indirekte Anspielung auf Babel, und zwar nicht auf das Babel aus der Zeit des Turmbaus, sondern das Babel aus der Zeit, in der Jesaja seine Verwüstung prophezeite (vgl. Jes 13,19-22), oder das Babel der Gefangenschaft (vgl. bspw. Jer 27).“
Mit dem neuen Wissen läßt sich eine neue Sicht auf diese Oase Gemalja wagen. In seinen Berichten könnte Joseph Loewy vom Ort Gemena, heute im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo gelegen, berichtet haben. „Gem“ bedeutet im Suaheli Edelstein und lautmalerisch ließen sich weitere Möglichkeiten zum Beispiel im Arabischen denken. Beides Sprachen, die Joseph Loewy im Kongo zu hören bekam. Vielleicht erinnerte sich der Autor Franz Kafka nicht mehr an den korrekten Ortsnamen, so dass er ihn strich, denn bekanntermaßen sind im gesamten Werk von Kafka konkrete und reale Ortsnamen wie Beispielsweise in „Der Verschollene“ oder „Beschreibung eines Kampfes“ nur selten zu finden. Ein möglicher Bezug zu undokumentierten Berichten von Joseph Loewy ist heute natürlich reine Spekulation, aber eine Spekulation, die anhand der neuen Quellenlage erlaubt sein muss.
Der zweite Text ist die „Erinnerungen an die Kaldabahn“, eine Prosaskizze im Tagebuch, die vermutlich ab dem 15. August 1914 entstanden ist.
Die grundsätzlichen Einflüsse von Joseph und auch Alfred Loewy in dieser Erzählung hat Anthony Northey bereits herausgestellt: „Der Text, in dem der Einfluß beider Loewys unverkennbar ist, ist wohl das Fragment Erinnerung an die Kaldabahn“ und muss an dieser Stelle nicht im Detail wiederholt werden. Auch Peter-André Alt hat in seiner Biographie „Franz Kafka. Der ewige Sohn“ schon darauf hingewiesen, dass sich die Abenteuer von Joseph Loewy hier widerspiegeln. [7]
Nun bieten sich mit der aufgefundenen Quelle neue Ansichten auf den Einfluss von Joseph Loewy durch den gemeinsamen Kuraufenthalt im Sommer 1897.
Allgemein wird heute davon ausgegangen, dass Franz Kafka aus den Erzählungen der Brüder Joseph und Alfred Loewy hier Motive vermischte und die Kongo-Bahn nach Russland verlegte. Möglicherweise aber erinnerte sich Franz Kafka auch an die Lokalbahn Wickwitz – Gießhübl-Sauerbrunn, die 1894 von Heinrich Mattoni errichtet und am 1. Februar 1895 eröffnet wurde. Diese knapp neun Kilometer lange Normalspureisenbahn führte von Wickwitz (heute Vojkovice nad Ohri) nach Gießhübl-Sauerbrunn (heute Kyselka). Wie in Kafkas Erzählung die kleine Bahn, die „ursprünglich vielleicht aus irgendwelchen wirtschaftlichen Absichten angelegt worden“[8] war, so wurde auch die Bahn in Gießhübl-Sauerbrunn zunächst für wirtschaftliche Zwecke, nämlich dem Transport des Mineralwassers geschaffen.
Eine weitere Ähnlichkeit gibt es in den fünf Dörfern, die dem Ich-Erzähler als Unterkunft oder Station erreichbar sind: „Von den fünf Dörfern, die für mich in Betracht kamen, war jedes einige Stunden sowohl von der Station, als auch von den anderen Dörfern entfernt“.[9]
Diese spiegeln sich in der oben genannten Lokalbahn der Firma Mattoni in deren fünf Stationen (Wickwitz, Welchau, Rodisfort, Gießhübl-Sauerbrunn und Mattoni) wider.
Auch weitere Texte von Franz Kafka lassen sich heute anders einordnen. Der oben erwähnte Poesiealbumeintrag erhält vor dem Hintergrund des Sommerurlaubs einen neuen Aspekt, denn der junge Franz Kafka wird das Kommen und Gehen täglich im Kurbetrieb erlebt haben. Sowohl die Tagesgäste als auch die Übernachtungsgäste kamen und gingen und schließlich war es auch ein Wiedersehen mit und ein Trennen von seinen beiden Onkeln, die er in vermutlich relativ kurzer Zeit durchlebte.
Ebenso ein Text wie „Der Geier“ könnte in dieser Jugendzeit seinen Ursprung haben. Vielleicht hat Joseph Loewy in seinen afrikanischen Berichten Erzählungen, Erfahrungen oder Beobachtungen von Geiern eingeflochten. Es lässt sich die Frage, wie ein Dichter aus der Stadt auf die Idee der Geiergeschichte kommt, ansonsten auch nur schwer beantworten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Kafkabild mit dieser Neuentdeckung um einige Nuancen im Detail reicher wird. Bisher ging die Fachliteratur davon aus, dass es in den genannten Texten Kafkas insbesondere Einflüsse vom Madrider Onkel Alfred Loewy gab, da Alfred Loewy als Bahndirektor Karriere machte und internationale Erfahrung in Paris und Madrid sammelte. Von Alfred Loewy sind auch Briefe an Franz Kafka überliefert, die vermuten lassen, dass es hier noch weitere bisher unentdeckte Korrespondenz gab. Jedoch vergessen diese Vermutungen zum einen, dass Alfred Loewy vom Büroangestellten zum Direktor aufstieg, ohne seinen Schreibtisch jemals zu verlassen und zum anderen, dass Alfred Loewy den europäischen Boden nie verlassen hat. Außerdem ging man bis heute davon aus, dass „kein einziger Besuch Josephs in Prag dokumentiert“[10] sei. Der Fund dieser Kurliste ändert hieran nicht zwingend etwas, jedoch erscheint es nun eher unwahrscheinlich, dass ein Familienmitglied im Zusammenhang mit seinem Aufenthalt in Gießhübl-Sauerbrunn nach mehreren tausend Kilometer beschwerlicher Reise, nicht seine wenige Kilometer entfernte Familie in Prag besucht hat. Außerdem liegt es nun nahe, dass es eher die Erzählungen eines Joseph Loewy waren, die die Quelle für Franz Kafkas oben genannte spätere Erzählungen waren als die Berichte eines Alfred Loewys.
[1] OX8 2, S. 139
[2] Engel/Auerochs: Kafka Handbuch, S. 218 und Drucke zu Lebzeiten Apparatband, S. 332
[3] Es ist zu vermuten, dass der jugendliche Franz Kafka keine Abenteuerliteratur las, da dies durch keine Briefe oder Tagebuchaufzeichnungen dokumentiert wäre und auch Borns Verzeichnis „Kafkas Bibliothek“ für keine Abenteuerbücher auf.
[4] Northey, Anthony: KAFKAs Mischpoche, S. 19 f.
[5] Oxforder Oktavhefte 2, S. 67
[6] Die Studie kann online von der Ruhr-Universität Bochum unter https://www.dekphil.ruhr-uni-bochum.de/dekphil/mam/kleinwort-malte-kafka_in_babels_ruinen.pdf abgerufen werden.
[7] Peter-André Alt, Franz Kafka. Der ewige Sohn (München 2018), S. 28
[8] Kafka, Franz: Tagebücher (Frankfurt/Main 2002), S. 549
[9] Kafka, Franz: Tagebücher (Frankfurt/Main 2002), S. 551
[10] Reiner Stach, Kafka. Die frühen Jahre (Frankfurt/Main 2014), S. 49 f.