Archive: Januar 11, 2024

Annäherung an Kafka II

Wie sich Kafka nähern, was von Kafka lesen? Die erste Lektüre von Kafka kann fesselnd oder abschreckend sein – was auch immer es ist, bleiben Sie dran. Vielleicht wollen Sie sich aber auch auf anderen, indirekten Wegen Kafka nähern – nach den ersten Tipps aus Januar nähern wir uns heute Kafka mit den Ohren:

  • Die Kafka Band, eine Indie-Band aus Tschechien, vertont die Werke von Franz Kafka auf einzigartige und kongeniale Art und Weise. Ihre Musik ist eingängig, man kann sich ihr gedankenverloren ganz widmen oder während der Autofahrt hören und die Texte sind auf Deutsch und Tschechisch. Ein Genuss, der vielleicht Lust auf mehr von den Texten Kafkas macht.
  • In einer szenischen Lesung widmeten sich Corinna Harfouch und Robert Gwisdek in der Reihe „Literat privat“ Franz Kafka auf der Li.Cologne 2016. Sie zeigen Kafka in einer ganz eigenen, sehr unterhaltsamen Perspektive. Die Audio CD ist im Random House erhältlich.
  • In der kommentierten und sehr unterhaltsamen Kreuzfahrt durch Kafka Nachlass „Kafka Spiele“ führt uns Reiner Stach in das nachgelassene Werk von Kafka ein und bietet ein sehr humorvollen Blick auf Kafkas Schreiben.
  • Sowohl bei YouTube als auch bei Spotify finden Sie nicht nur zahlreiche kostenlose Hörbücher von Franz Kafka, sondern ebenso Einführungen in sein Werk, aufgezeichnete Interviews oder Radiosendungen und ähnliches. Hier muss man einfach stöbern und reinhören.

Zürauer Aphorismus 6

„Der entscheidende Augenblick der menschlichen Entwicklung ist, wenn wir unseren Zeitbegriff fallen lassen immerwährend. Darum sind die revolutionären geistigen Bewegungen, welches alles frühere für nichtig erklären, im Recht, denn es ist noch nichts geschehen.“

Nach seiner Diagnose der Tuberkulose im August 1917 verbrachte Franz Kafka fast acht Monate vom 12.09.1917 bis 30.04.1918 in Zürau bei seiner Schwester Ottla zur Erholung. In dieser Zeit schrieb er nur sehr wenige fiktionale Texte und auch kaum Tagebuch. Er verfasste jedoch in zwei Oktavheften einiges an Kurzprosa und 109 Kurztexte auf abgerissenen Zetteln, die oftmals unter „Zürauer Aphorismen“ zusammengefasst werden.

(Quelle: Franz Kafka, Zürauer Zettel, Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, Stroemfeld/Roter Stern)


Zürauer Aphorismus 5

„Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.“

Dieser kurze Aphorismus ist einer der bekanntesten und häufig zitierten Texte von Franz Kafka. Grandios in seiner Verknappung und ebenso vollkommen rätselhaft. Welcher Punkt? Wer definiert diesen Punkt? Der Mensch, das Leben oder der Tod?

Nach seiner Diagnose der Tuberkulose im August 1917 verbrachte Franz Kafka fast acht Monate vom 12.09.1917 bis 30.04.1918 in Zürau bei seiner Schwester Ottla zur Erholung. In dieser Zeit schrieb er nur sehr wenige fiktionale Texte und auch kaum Tagebuch. Er verfasste jedoch in zwei Oktavheften einiges an Kurzprosa und 109 Kurztexte auf abgerissenen Zetteln, die oftmals unter „Zürauer Aphorismen“ zusammengefasst werden.

(Quelle: Franz Kafka, Zürauer Zettel, Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, Stroemfeld/Roter Stern)


Ein Damenbrevier

Am 6. Februar 1909 – heute vor 115 Jahren – erschien Kafkas erste Rezension eines schriftstellerischen Werkes seiner literarischen Zeitgenossen. Grundsätzlich hielt Franz Kafka nicht viel von Auftragsarbeiten und insgesamt hat er nur drei Rezensionen geschrieben. Wenn man den unten stehenden Text liest, dann kann man Kafka Äußerung „ich bin nichts als Literatur“ fühlen, denn man erfährt nichts über das eigentliche Werk „Die Puderquaste“ von Franz Blei, nichts über deren Inhalt, nichts über deren Form oder den Autor. Wie der Schwimmer taucht Kafka in seinen Text und assoziiert Bilder, deren Ursachen und Zwecke vollkommen fremd bleiben. Als literaturwissenschaftlich Rezension kann dieser Text gewiss nicht durchgehen und dennoch ist er grandios, denn ist auch „Die Puderquaste“ selber eine lose Ansammlung von Skizzen im Stile des Feuilleton.

Franz Blei selbst scheint es gefallen zu haben, denn er schrieb am 8. Februar an Max Brod: „Was Kafka in der Zeitschrift über die Puderquaste schrieb ist sehr sehr fein.“

Ein Damenbrevier

„Wenn man sich in die Welt aufatmend entläßt, wie vom hohen Gerüst der Schwimmer in den Fluß, gleich und später manchmal von Gegenstößen wie ein liebes Kind verwirrt, aber immer mit schönen Wellen zur Seite in die Luft der Ferne treibt, dann mag man wie in diesem Buch ziellos mit geheimem Ziel die Blicke über das Wasser richten, das einen trägt und das man trinken kann und das für den auf seiner Fläche ruhenden Kopf grenzenlos geworden ist.
Verschließt man sich jedoch diesem ersten Eindruck, dann erkennt man bis zur Überzeugung, daß der Verfasser hier mit einer förmlich ungestillten Energie gearbeitet hat, die den Bewegungen seines unablässigen Geistes – sie sind zu schnell, als daß sie Zusammenhang verrieten – Kanten zum Erschrecken gibt.
Und dies vor einer Materie, die in der zuckenden Entwicklung, welche sie erfährt, an die Versuchungen erinnert, die vom Schreien unsichtbarer Wüstentiere angetrieben, Einsiedler einst erfrischten. Doch schwebt diese Versuchung nicht vor dem Verfasser als kleines Balletkorps auf ferner Bühne, sondern sie ist ihm nah, sie umpreßt ihn stark, bis er sich in sie verschlingt und ehe er es noch von der Dame erfuhr, schrieb er schon: »Aber man muß lieben, um sich mit Grazie hingeben zu können«, sagte Annie D., eine schöne blonde Schwedin.
Was ist es nun für ein Anblick, wenn der Verfasser in diese Arbeit so verstrickt uns erscheint, getragen von einer Natur, gleich jenen Wolken aus Stein, die einmal im Barock die Gruppen im Sturmwind sich umarmender Heiliger erhoben. Der Himmel, in den das Buch in der Mitte und gegen Ende ausbrechen muß, um durch ihn die frühere Gegend zu retten, ist fest und überdies durchsichtig.
Natürlich besteht niemand darauf, daß die Damen, für die der Verfasser geschrieben hat, dies wirklich sehn. Ist es doch genügend und mehr als das, wenn sie, vom ersten Absatz schon gezwungen, wie es sein muß, fühlen werden, daß sie in ihren Händen einen Beichtspiegel halten und einen besonders treuen. Denn die Beichte, die man so nennt, geschieht in einem ungewohnten Möbelstück, auf dem Boden eines ungewohnten Raumes im halben Licht, das alles ringsherum und auf und ab mit Zukunft und Vergangenheit nur halb wahr macht, so daß notwendig auch alle Ja und Nein, die gefragten und die geantworteten halb falsch sein müssen, besonders wenn sie ganz ehrlich sind. Wie könnte man aber hier an ein wichtiges Detail vergessen in der gewohnten mitternächtlichen Beleuchtung während eines leisen Gespräches (leise, weil es heiß ist) nahe beim Bett!“

(Franz Kafka, „Ein Damenbrevier“ in „Der neue Weg“, 1909)


Kafka als mondblaue Maus

Die Kafka. Die Kafka ist eine sehr selten gesehene, prachtvolle mondblaue Maus, die kein Fleisch frißt, sondern sich von bittern Kräutern nährt. Ihr Anblick fasziniert, denn sie hat Menschenaugen.

(Dr. Peregrin Steinhövel, Bestiarium Literaricum, 1920)

Unter dem Pseudonym Peregrin Steinhövel veröffentliche Franz Blei (1871 – 1942), ein Wegbegleiter und Freund von Kafka und der Herausgeber des Hyperion, in dem Kafka seine ersten Texte veröffentliche, 1920 das „Bestiarium Literaricum das ist: Genaue Beschreibung derer Tiere des Literarischen Deutschlands. Gedruckt für Tierfreunde zu München in diesem Jahr“. Dieser satirische „Tierbrehm“ nahm den damaligen Literaturbetrieb, den Franz Blei aus eigener Erfahrung sehr gut kannte, aufs Korn und so fand auch Franz Kafka seinen Weg in diese ganz besondere Enzyklopädie, die in den folgenden Jahren drei erweiterte Ausgaben fand.

Trotz einer verhältnismäßig kleinen Auflage, war das Bestiarium berühmt und berüchtigt in den literarischen Kreisen der zwanziger Jahre. Franz Blei war nicht zimperlich und beschrieb die Dichter nicht immer wohlwollend, aber schlimmer war es für jeden Autor überhaupt nicht im Bestiarium erwähnt zu werden.

So schrieb er zum Beispiel über Gottfried Benn »Der Benn ist ein giftiger Lanzettfisch, den man zumeist in Leichenteilen Ertrunkener festgestellt hat«, über Knut Hamsun nur Gutes »Das Hamsun ist die schönste der lebenden Echsen, ein Naturspielwerk …«, über Rainer Maria Rilke »Um die Zugehörigkeit der Rilke zum Tier- oder Pflanzenreich streiten miteinander die Zoologen und Botaniker …« und über Frank Wedekind »Die Wedekind, so hieß eine Sphinx, halb Geschlecht, halb Kopf, doch beides in verkehrter Weise angeordnet …«

Kafka ist da doch noch ganz gut weggekommen.


Zürauer Aphorismus 3

„Es gibt zwei menschliche Hauptsünden, aus welchen sich alle andern ableiten: Ungeduld und Lässigkeit. Wegen der Ungeduld sind sie aus dem Paradise vertrieben worden, wegen der Lässigkeit kehren sie nicht zurück. Vielleicht aber gibt es nur eine Hauptsünde: die Ungeduld. Wegen der Ungeduld sind sie vertrieben worden, wegen der Ungeduld kehren sie nicht zurück.“

Nach seiner Diagnose der Tuberkulose im August 1917 verbrachte Franz Kafka fast acht Monate vom 12.09.1917 bis 30.04.1918 in Zürau bei seiner Schwester Ottla zur Erholung. In dieser Zeit schrieb er nur sehr wenige fiktionale Texte und auch kaum Tagebuch. Er verfasste jedoch in zwei Oktavheften einiges an Kurzprosa und 109 Kurztexte auf abgerissenen Zetteln, die oftmals unter „Zürauer Aphorismen“ zusammengefasst werden.

(Quelle: Franz Kafka, Zürauer Zettel, Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, Stroemfeld/Roter Stern)


Zürauer Aphorismus 4

„Viele Schatten der Abgeschiedenen beschäftigen sich nur damit die Fluten des Totenflusses zu belecken, weil er von uns herkommt und noch den salzigen Geschmack unserer Meere hat. Vor Ekel sträubt sich dann der Fluss, nimmt eine rückläufige Strömung und schwemmt die Toten ins Leben zurück. Sie aber sind glücklich, singen Dankeslieder und streicheln den Empörten.“

Nach seiner Diagnose der Tuberkulose im August 1917 verbrachte Franz Kafka fast acht Monate vom 12.09.1917 bis 30.04.1918 in Zürau bei seiner Schwester Ottla zur Erholung. In dieser Zeit schrieb er nur sehr wenige fiktionale Texte und auch kaum Tagebuch. Er verfasste jedoch in zwei Oktavheften einiges an Kurzprosa und 109 Kurztexte auf abgerissenen Zetteln, die oftmals unter „Zürauer Aphorismen“ zusammengefasst werden.

(Quelle: Franz Kafka, Zürauer Zettel, Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, Stroemfeld/Roter Stern)


Armer zahlungsunfähiger Ausländer

Am 28. Januar 1924 bezieht Franz Kafka seine letzte Wohnung in der Heidestr. 25-26 in Berlin-Zehlendorf bei Frau Dr. Busse. Das Haus und die Wohnung existieren heute nicht mehr, doch erinnert eine Plakette am neuen Bau an der berühmten Bewohner. Hier verbringt er, wenngleich schon schwer gezeichnet vom späten Stadium seiner Lungentuberkulose, mit Dora Diamant eine glückliche Zeit bis März 2024. Im März 2024 wird sein Gesundheitszustand so schlecht sein, dass Kafka ein Einsehen hat und sich, nach einem kurzen Aufenthalt in Prag, in ein Sanatorium in Wien begibt.

Der Titel des heutigen Blogeintrag entstammt Kafkas Briefen. Er schreibt am 28. Januar 1924 an seinen Freund Felix Weltsch:

„[…]Verlockend macht allerdings nur deshalb, weil ich in meiner bisherigen schönen Wohnung als armer zahlungsunfähiger Ausländer gekündigt worden bin.“

(Franz Kafka, Briefe 1902 – 1924, S. Fischer Verlag 1975)

Dora Diamant und Franz Kafka mussten mehrfach in Berlin die Wohnung wechseln und der Hauptgrund dafür war aber die – heute schwer nachvollziehbare – Tatsache, dass die beiden ein unverheiratetes Paar waren. Dies sorgte für Gerede und war kaum einen Vermieter recht.


Ein Faustschlag auf den Schädel

Am 27. Januar 1904 schreibt Franz Kafka im Alter von jungen 21 Jahren einen Brief an seinen damaligen engen Schulfreund Oskar Pollak, der eines der am häufigsten zitierten Ansichten Kafkas zur Literatur im Allgemeinen enthält:

Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wäldern verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.

(Franz Kafka, Briefe 1902 – 1924, Frankfurt 1975)

Fett hervorgehoben in dem obigen Zitat sind die Ausschnitte, die sehr häufig zitiert werden oder als „Motiv“ für literarische Postkarten und ähnlichem dienen. Kafka nimmt sich hier selbst vorweg, denn seine Werke treffen uns oft selbst wie ein Faustschlag auf den Schädel.

Was in diesen Zitaten verborgen bleibt, ist der Kontext, in dem Kafka seinem Schulfreund schreibt. Franz Kafka ist dem Freund seit vierzehn Tagen eine Briefantwort schuldig, doch er hatte bisher keine Muße zur Feder zu greifen, denn Kafka hatte „[…] Hebbels Tagebücher (an 1800 Seiten) in einem Zuge gelesen […]“. Es ist also nicht ein literarisches Werk, das selbst wie ein Faustschlag wirken kann, wie etwa Kleists Kohlhaas oder Goethes Werther, was ihn hier gerade beschäftigt, sondern Friedrich Hebbels Tagebücher aus den Jahren 1835 bis 1863.

Wenn man Hebbel und Kafka in Verbindung bringen möchte, lohnt sich ein Blick in Hebbels Verständnis vom Konflikt im klassischen Drama, so schrieb er 1843 in „Ein Wort über das Drama“: „Die dramatische Schuld [entspringt] nicht, wie die christliche Erbsünde, erst aus der Richtung des menschlichen Willens […], sondern unmittelbar aus dem Willen selbst, aus der starren, eigenmächtigen Ausdehnung des Ichs“. Wer diese Zeilen liest, kann sich problemlos einen Gregor Samsa vor das innere Augen holen, der stur, starr und eigenmächtig zu einem Ungeziefer mutiert und so eine Schuld auf sich lädt.


Kafka und der Jägermeister

Im Jahr 1973 veranstaltete Mast-Jägermeister SE, Hersteller des Likörs Jägermeister, eine Werbekampagne, in dem er ca. 3.500 Personen befragte, warum sie den bekannten Kräuterlikör trinken. Eine der Antworten muss von einem verzweifelten Kafkaleser stammen.

(Bild-Quelle: Hochsitz-Cola.de)

Auch wenn es diese originelle Werbung in den Wikipedia-Artikel zu Kafka und auch in Kafka-Handbuch von Manfred Engel und Bernd Auerochs (Kafka Handbuch, Metzler Verlag, S. XIII) geschafft hat, es ist nicht bekannt, dass sie auch der Verbreitung von Kafkas Werken dienlich war.